Japanische Literatur:Am Ende gewinnt immer der Wald

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Pazifist, Atomkraftgegner, Meister der Selbstreferenzialität und Literaturnobelpreisträger: der japanische Schriftsteller Kenzaburō Ōe. (Foto: Jeff Pachoud/AFP)

In "Der nasse Tod" blickt der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe auf das Leben seines Alter Ego zurück.

Von Jonas Lages

Dem japanischen Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe wird gern nachgesagt,er kultiviere in seinem Spätwerk die gehobene Langeweile. Und auch in seinem neuen Roman "Der nasse Tod" tut er wenig, um diesem Eindruck entgegenzuwirken. Die äußere Handlung ist marginal, die innere Beteiligung des Ich-Erzählers überschaubar, die Sprache so abgeklärt, dass sie hinter den Dingen, die sie beschreibt, zurückzutreten scheint.

Und so wirkt es nur folgerichtig, dass der Protagonist in der "Der nasse Tod" - ein alter Schriftsteller namens Kogito Chōkō, der bereits seit mehreren Romanen als Ōes Alter Ego dient - einmal von einem jungen Leser gefragt wird: "Werden Ihre Romane noch als richtige Romane wahrgenommen?" Gute Frage. Sie führt direkt in das Zentrum des Romans, in dem Ōe die perfekte Ausgangslage schafft, um einen Roman zu schreiben, der kein Roman sein will: Ein alter Schriftsteller will sein finales Werk namens "Der nasse Tod" schreiben - und scheitert. Im Zentrum des Romans von Kenzaburō Ōe steht also ein Roman von Kogito Chōkō über Leben und Tod seines Vaters. Die erste Szene hat er schon, seit einem halben Jahrhundert durchlebt er sie selbst in seinen Träumen immer wieder aufs Neue: Im Jahr der Kapitulation steigt er nachts in den Fluss seines Heimatortes und will in das Boot springen, in dem sein Vater sitzt, doch das Boot wird von der Strömung fortgerissen. Später wird der Leichnam des Vaters mitsamt eines roten Koffers an Land gespült. Vor seinem Tod traf er angeblich Offiziere, die einen Aufstand planten.

Wieso aber ist er überhaupt aufs Hochwasser hinausgefahren? War es ein Auftrag? Eine Flucht? Gar Selbstmord? Das ist die Frage, auf die Chōkō eine Antwort finden will in seinem Roman, dessen Form sich an T.S. Elliots "The Waste Land" anlehnt: "Ein Meeresstrom / Nahm flüsternd seine Knochen. Wie er stieg und sank, / Ging er durch die Lebensstufen, jung und alt, / In den Strudel ein." Während sein Vater im Wasser treibt, blickt er auf sein Leben zurück.

Jetzt scheint die Zeit dieses Romans, den Chōkō sein Leben lang schreiben wollte, sein Opus magnum, endlich gekommen zu sein. In seinem Heimatdorf wartet der väterliche rote Koffer auf ihn. Allein, die erhofften Briefe und Tagebücher seines Vaters sind verschwunden; seine Mutter hat sie verbrannt und ihm ein Tonband zurückgelassen, auf dem sie mit altersschwacher Stimme offenbart, dass sein Vater aus Angst geflohen sei und dabei zu Tode kam. Die Hoffnung auf sein literarisches Vermächtnis ist zerschlagen; das Bild seines Vaters, den er "fast bis zur Verzweiflung geliebt" hat, ist zerstört.

In der für Kenzaburō Ōe typischen Weise präsentiert sich "Der nasse Tod" als eine Form der Autofiktion: Zwar ähnelt Kogito Chōkō seinem Autor in Lebenssituation und Werkgeschichte, doch bleibt er eine fiktionale Gestalt, die sich nicht auf biografische Bruchstücke reduzieren lässt. Nun wäre Ōe nicht Ōe, wenn "Der nasse Tod" hier enden würde. Der Roman, 2009 im Original erschienen, ist ein Vermächtnis - ein Buch der letzten Dinge. Noch einmal verhandelt der Pazifist und Atomkraftgegner die prägenden Themen seines Schaffens - den japanischen Nationalismus und Kaiserkult, die Marginalisierten der Macht, die mythische Waldwelt seiner Heimat auf Shikoku - und verwebt sie in einer Engführung persönlicher und kollektiver Traumata.

Ōes Œuvre ist über die Dekaden zu einem selbstreferenziellen Kosmos geworden, den jedes neue Werk mit einer Vielzahl an Verweisen ausbaut. Ōe beginnt die Arbeit an jedem neuen Werk, indem er das Thema eines alten wieder aufgreift. Diesmal sind es besonders Motive aus den Romanen "Der stumme Schrei", "Spiel der Zeitgenossenschaft" und "Der Tag, an dem Er selbst mir die Tränen abgewischt", die, teils historisch, teils mythisch, um Formen des Widerstands kreisen.

Um den ausführlichen Reflexionen des eigenen Werkes eine Form zu geben, taucht in "Der nasse Tod" eine avantgardistische Theatergruppe auf, die Chōkōs Werke, die in Namen und Inhalt Ōes gleichen, adaptiert. Wie Ōe in "Der nasse Tod" zudem scheinbar en passant Motive der japanischen Literaturgeschichte streift, um sie zweihundert Seiten später in der eigenen Geschichte auszuagieren, zeigt seine ganze intertextuelle Finesse.

So feinmaschig die Motive auch verknüpft sind, so sehr ist "Der nasse Tod" aber ein Buch des Verschwindens. Es ist nicht allein die Herrschaft über sein Werk, die Chōkō durch das Scheitern des Romanprojekts verliert. Nach und nach entgleitet ihm auch die Autorschaft über sein eigenes Leben. Schleichend verstummt Chōkōs Erzählstimme, der Roman ist ein Prozess der fortschreitenden Entmündigung. Es sind die Stimmen der anderen Figuren, die den Roman in ausufernden Monologen, besprochenen Kassetten und 30 Seiten langen Briefen voranbringen und so den Ich-Erzähler geradezu zum Kurator seiner eigenen Geschichte werden lassen.

Zu ihnen gehört auch die Stimme von Daiō, der als Jugendlicher das nationalistische Dōjō besuchte, in dem Chōkōs Vater gegen Kriegsende mit den Offizieren zusammenkam. Chōkō hat sich da schon als intertextueller Spurenleser der Geschichte seines Vaters angenähert. Er weiß mittlerweile, dass sich im roten Koffer die mythologische Studie "Der goldene Zweig" des schottischen Anthropologen James George Frazer befand. Frazer beschreibt darin ein Reinkarnationskonzept, nach dem ein Menschengott bei ersten Anzeichen der Schwäche zu töten sei, um seine Kraft auf den Nachfolger zu übertragen. Und tatsächlich, so erfährt Chōkō von Daiō, hatte sein Vater wohl mit den Offizieren geplant, ein Kamikaze-Flugzeug in das Zentrum der kaiserlichen Hauptstadt zu stürzen. Doch als diese dafür eine Stelle des Waldes, die in den lokalen Mythen heilig ist, für die Zwischenlandung des Flugzeugs roden wollten, widersetzte sich sein Vater dem Plan und fuhr auf das Hochwasser hinaus. Die Waldwelt widerstand dem Tennō-Kult.

Und so löst Kenzaburō Ōe ein, woran sein Alter Ego scheitert: der Tod des Vaters wird literarisch aufgeklärt. Dass das Buch dabei zugleich seine Leser nachempfinden lässt, was es heißt, wenn das Erzählen sich nicht mehr seines Stoffes bemächtigen kann, ist das besondere Kunststück dieses Romans.

Kenzaburō Ōe: Der nasse Tod. Roman über meinen Vater. Roman. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 432 Seiten, 25 Euro.

© SZ vom 30.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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