Jahrgang 1929:Die Gesellschaft im Elfenbeinturm

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Jenseits der Nationalphilologie: Peter Szondi, geboren 1929 in Budapest, gestorben 1971 in Berlin. (Foto: DLA Marbach)

Überlebender der Schoah, einflussreicher Literaturwissenschaftler, öffentlicher Intellektueller: Mit Gespür für Personen und Kontexte erzählt Hans-Christian Riechers von Leben und Werk Peter Szondis. Ein großer Gelehrter kann auf diese Weise neu entdeckt werden.

Von Jörg Später

Im vergangenen Jahr wäre Peter Szondi wie Jürgen Habermas neunzig Jahre alt geworden. Szondi kennen heute nur noch wenige. Man kann Germanistik studieren, ohne je diesem Namen zu begegnen. Dabei war Szondi ein Typ wie Habermas, den er Anfang der Sechzigerjahre in Heidelberg kennenlernte. Beide waren frühreife engagierte Wissenschaftler, die inspiriert von Adorno ihre Fächer modernisierten und zugleich streitbar als öffentliche Intellektuelle auftraten. Ihre Lebenswege freilich konnten verschiedener nicht sein, was sich nirgends stärker als im Freitod Peter Szondis ausdrückte. Er wurde am 9. November 1971 am Berliner Halensee tot aufgefunden.

Es ist erstaunlich, dass es bisher noch keine Biografie gab, zumal Szondis Schüler wie Gert Mattenklott in den Achtzigerjahren zu den Granden der Germanistik gehörten. Jetzt aber liegt eine "intellektuelle Biographie" von Hans-Christian Riechers vor, die - durchaus ungewöhnlich für einen biografischen Text - gleichzeitig eine literaturwissenschaftliche Dissertation ist. Nun finden sich in Riechers' Buch tatsächlich Passagen, die das fachwissenschaftliche Korsett deutlich machen, in das eine Qualifikationsarbeit eingebunden ist. Gleichwohl dominiert zum Glück nicht der Fachjargon. Im Gegenteil, Riechers kann schreiben und hat vor allem ein Gespür für die historische Person und ihre Umgebungen. Dem Autor gelingt es vortrefflich, zu verdeutlichen, warum Szondi ein Phänomen war und eine Schlüsselfigur, um Kultur und Gesellschaft der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der Bundesrepublik zu erhellen.

1929 geboren, entstammte Szondi einem bildungsbürgerlichen jüdischen Elternhaus in Budapest. Der Vater Leopold war Psychiater, sein Onkel László Radványi gehörte zum Budapester Sonntagskreis um Georg Lukács, Karl Mannheim und Béla Balázs, seine Tante war Anna Seghers. Die politischen Bruchlinien gingen also durch die Familie hindurch, bis in spätere Nachkriegszeiten. Von Jugend an war Szondi mit Ivan Nagel befreundet, ebenfalls eine interessante Figur aus der bundesdeutschen Kulturszene, die heute nur noch älteren Theaterfreunden bekannt ist.

Peter Szondi war ein "Kasztner-Jude", wie sein Dichterfreund Paul Celan einmal in seiner drastischen Art sagte, das heißt, er verdankte seine Rettung vor der Vernichtung dem Geldhandel, den Rudolf Kasztner mit der SS abschloss, um Juden aus Budapest herauszubekommen. Die Szondis wurden allerdings nicht wie die Mehrzahl nach Palästina gebracht, sondern ihr Transportziel im Juni 1944 hieß Bergen-Belsen, um sie als "Austauschjuden" verfügbar zu halten. Im Dezember 1944 durften sie in die Schweiz ausreisen.

Seine "Theorie des modernen Dramas" erlebte bis heute 28 Auflagen

Nur wenige Wochen später wurde das Konzentrationslager zum Todeslager. Der Judenretter und Nazi-Kollaborateur Kasztner wurde 1957 in Israel vor seinem Haus ermordet. Szondi quälte die "Schuld", überlebt zu haben, den Rest seines Lebens.

In Zürich entdeckten und lasen die Adoleszenten Szondi und Nagel um 1950 Theodor W. Adornos "Philosophie der neuen Musik" und Walter Benjamins Trauerspielbuch. Adorno und Benjamin waren damals weitgehend unbekannt und sollten für Szondi zu Fixsternen der intellektuellen Orientierung werden, wie zehn Jahre später auch Celan, den Szondi in Paris kennenlernte, und schließlich Gershom Scholem. 1956 erschien Szondis Dissertation - völlig außergewöhnlich - im Frankfurter Suhrkamp-Verlag. Sie hieß: "Theorie des modernen Dramas". Der Titel klang nicht von ungefähr nach der "Theorie des Romans" des jungen Georg Lukács, aber es steckte auch viel Adorno und Benjamin drin. Literaturtheorie gab es damals nicht. Szondi scherte sich auch nicht um Nationalphilologie, sondern überblickte souverän die europäische Literatur. Fast ein Wunder, dass die Schrift nicht abgelehnt wurde, wie es einst Benjamin mit seinem "Ursprung des deutschen Trauerspiels" ergangen war. Dem eher konservativen Doktorvater Emil Staiger gebührt Dank. Zu Szondis Lebzeiten erschienen fünf Auflagen der "Theorie des modernen Dramas", bis heute sind es 28. Das Buch ist in 15 Sprachen übersetzt worden.

"Sein Denken war von grosser Dichte und unerbittlich in der oft übermässigen Kürze der Formulierung." Riechers zitiert hier Scholems Charakterisierung von Benjamins Stilideal und überträgt es auf Szondi, der ebenfalls dicht und kurz, konzise und reduziert schrieb - er kam auf, wenn man alle seine Monografien zusammenzählt, gerade einmal 850 Buchseiten. Dass Konzentration und theoretische Höhenflüge faszinieren konnten, erzählt viel über die Sechziger, ebenso Szondis Kämpfe gegen die konservativen Kulturhäuptlinge mit Nazivergangenheit an den Schaltstellen des Feuilletons wie Hans Egon Holthusen. Szondi engagierte sich für Celan, als der jüdische Dichter mit Plagiatsvorwürfen verleumdet wurde oder Celans Metaphern wie "Mühlen des Todes" als "in X-Beliebigkeiten schwelgende Genitivmetaphern" abgetan wurden. Szondi scheute sich nicht, im Haus des Henkers vom Strick zu reden, verstieß gegen die "Aphasie" der Nachkriegszeit und gegen Sprechordnungen. Er fand dabei, auch das zeigt Riechers, immer mehr Unterstützung. In den Sechzigern veränderte sich das Klima, aber auch die Kämpfe wurden härter.

Riechers rekonstruiert beispielsweise das Berufungsverfahren für einen Lehrstuhl für Deutsche Philologie in Frankfurt am Main. Dort wurde Szondi im Sommer 1964 abgelehnt, wohl um Adorno, der in der Kommission saß, eins auszuwischen, aber auch, wie das Protokoll zeigt, weil Szondi sich öffentlich mit Holthusen angelegt hatte. Beide Motive lassen sich freilich leicht zusammenführen, denn beide Gründe entstanden aus der gegenwärtigen Vergangenheit. Der federführende Germanist Heinz Otto Burger jedenfalls hatte Deutsch schon bei der SA gelernt.

Bei einem Besuch in Jerusalem nannte er sich eine "self-displaced person"

Aus denselben Gründen, warum man Szondi in Frankfurt ablehnte, wollte man ihn dann in Berlin an der Freien Universität haben, wo vor allem der jüdische "Linkshermeneut" Jacob Taubes eine Filiale der Kritischen Theorie einzurichten gedachte. In Berlin wurde am Kiebitzweg ein neues Seminar gegründet, und zwar für "Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft" (seit 2005 Peter-Szondi-Institut). Hier verkündete Szondi den Abschied von der Nationalphilologie, holte namhafte Gastwissenschaftler aus der ganzen Welt und veranstaltete Seminare, in denen gelesen und diskutiert wurde. Taubes, der ein ähnliches Institut für Hermeneutik der Philosophie leitete, und Szondi ermöglichten den Geisteswissenschaften eine Internationalisierungskur. Die Studenten hingen an ihren Lippen.

Die "Unruhe der Studenten" um 1968 begleitete Szondi mit Sympathie. Allerdings wurde er wie die Frankfurter Kollegen Adorno und Habermas irgendwann selbst attackiert. Solidarität durfte bei Szondi nicht auf Kosten von Differenzierung gehen. Als Adorno seinen berühmten Iphigenie-Vortrag in Berlin vor rebellierenden Studenten hielt, verteidigte der Gastgeber den Klassizisten souverän gegen die Klassenkämpfer. Auch für seinen Elfenbeinturm im Kiebitzweg schämte er sich vor den roten Literaturzellen nicht. Auf die Frage, was er von der Kritischen Universität halte, antwortete er mit Brechts Herrn Keuner: "Viel. Drum mache ich sie selbst."

So souverän dieses noch immer junge Genie sich öffentlich bewegte, so psychisch krank war es. Seit seiner Kindheit war Szondi von schweren Depressionen heimgesucht. Das Weiterleben nach der Schoah war immer wieder eine Last. Szondi nannte sich selbst bei einem Besuch in Jerusalem, wo er prüfte, ob er einen Ruf folgen würde, eine "self-displaced person". Scholem wollte Szondi nach Israel holen, so wie einst Benjamin nach Palästina. Erneut erhielt er eine Absage.

Im August 1969 starb Adorno, was für Szondi ein großer Einschnitt war. Im April 1970 tötete sich Celan, den Szondi einen Monat zuvor noch in Paris besucht hatte. Im Oktober 1971 beendete Szondi sein Leben.

Ob Szondi eine Karriere wie Habermas gemacht hätte? Vermutlich nicht, er entwickelte keine umfassende Gesellschaftstheorie, sondern holte "bloß" die Gesellschaft in seine Kunsttheorie hinein. Vor allem aber war sein Leben wie das anderer jüdischer Intellektueller wie Celan oder Jean Améry durch die Vernichtungserfahrung so beschädigt, dass das Überleben trotz beruflicher und öffentlicher Erfolge nur vorübergehend gelang.

Hans-Christian Riechers: Peter Szondi. Eine intellektuelle Biographie. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2020. 281 Seiten, 39,95 Euro.

© SZ vom 04.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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