Islam-Debatte:Wie es euch gefällt

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Was Angelika darf, muss auch Ayse erlaubt sein, und wir können Herrn Ötztürk nicht schelten für etwas, was wir Kardinal Lehmann durchgehen lassen. Pluralismus ist nicht verhandelbar.

Hilal Sezgin

Mit großem Aplomb hat man in den letzten Jahren den Multikulturalismus zu Grabe getragen. Seine zahlreichen Grabredner warfen ihm vor, er habe das Leben in Einwanderungsgesellschaften beschönigt. Er habe die Konflikte, die es zwischen Einwanderergruppen und Einheimischen gebe, heruntergespielt, er habe die fremden "Kulturen" (wie den Islam) idealisiert und deren Schutz über die Rechte des Individuums (beispielsweise unterdrückter Frauen) gestellt.

In Wahrheit haben wir nicht die Konflikte zwischen Einwanderern und Einheimischen, sondern die zwischen den verschiedenen Einheimischen zu wenig zur Kenntnis genommen. Und wenn der Multikulturalismus an etwas schuld ist, dann höchstens daran, dass er uns verleitet hat, den Ursprung solcher Konflikte irgendwo in der "Fremde" zu vermuten. Als ob nur die Einwanderer "Kulturen" besäßen und "Traditionen" - wo es doch tatsächlich bereits unter einheimischen Deutschen jede Menge partikularer Überzeugungen und Praktiken gibt.

Die deutsche Verfassung kennt zahlreiche Mechanismen, die dazugehörigen Gruppen und Traditionen zu schützen. Ehe und Familie stehen unter dem expliziten Schutz von Artikel 6 GG, und noch zwei weitere Beispiele seien hier genannt, zunächst das Konzept des Tendenzbetriebs. Tendenzbetriebe wie Zeitungen, Parteien und Kirchen sind von manchen gesetzlichen Bestimmungen ausgenommen, was die Arbeitnehmer angeht. Während für normale Betriebe gilt, dass jede Stellenausschreibung geschlechtlich neutral formuliert sein soll, darf die katholische Kirche Frauen grundsätzlich vom Priesteramt ausschließen. Ebenso Homosexuelle - das ist dann keine Diskriminierung, sondern gehört zum Privileg des Tendenzbetriebs.

Ist eine Abtreibung eine Tötung?

Eine andere geschützte Gruppe innerhalb Deutschlands sind die Jäger. Ihre Legitimation mag weniger ehrwürdig und vor allem nicht spirituell begründet sein, trotzdem findet ihr Waidrecht in unseren Gesetzbüchern Platz. Während ansonsten kein Wirbeltier ohne vorherige Betäubung getötet werden darf, dürfen Jäger unbetäubte Tiere schießen und veranstalten selbst bei klirrender Kälte Treibjagden aufs ohnehin schon gebeutelte Wild. Im Tierschutzgesetz werden solche Ausnahmen genehmigt "im Rahmen waidgerechter Ausübung der Jagd".

In diesen und vielen anderen Fällen prallen einige gruppenspezifische Werte mit solchen der Allgemeinheit zusammen, die das Grundgesetz schützt. Dabei handelt es sich nicht etwa um Gesetzeslücken, sondern um ganz normale Paradoxien innerhalb der pluralistischen Moderne. Ein Bündel an Grundüberzeugungen und Grundrechten vorausgesetzt, differenzieren sich diese in so viele unterschiedliche Anwendungen und Interpretationen aus, dass es nicht nur zu erheblichen Interessens-, sondern auch moralischen Konflikten kommen kann. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Beispiel ließ sich in Westeuropa kein Konsens mehr erzielen, ob die Abtreibung eines Fötus von unter drei Monaten die Tötung eines Menschen ist. Ein solcher Konsens wird sich wohl nie wiederherstellen lassen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum jeder selber entscheiden darf, ob er seine Gesundheit mit Zigaretten aufs Spiel setzt.

Umgekehrt werden wir hoffentlich nie wieder dahin zurückfallen, dass Homosexualität unter Erwachsenen als Straftat gilt. Trotzdem: Per Strafrecht die katholische Kirche zur Akzeptanz von Homosexualität bekehren, kann man nicht. Ob durch die Ungleichzeitigkeit von Modernisierungsschüben oder schlicht unterschiedliche Weltsichten: Unsere Gesellschaft ist irreversibel pluralistisch. Und zwar nicht nur faktisch, sondern auch aus normativen Gründen. Wir wollen ja gar nicht, dass jeder Mensch, der anders denkt als die Mehrheit, einer Gehirnwäsche unterzogen wird. Wir wollen auch nicht, dass seine Meinung strafrechtlich verfolgt wird. Grobe Verletzungen Dritter (Menschen), die daraus erwachsen können, sind justiziabel; aber abschätzige Meinungen über Angehörige benachteiligter Gruppen sind es nicht.

Müssen wir die Verblendeten nicht anleiten?

Wir haben gelernt, mit diesen Verschiebungen zu leben, auch wenn sie stets Thema von Auseinandersetzungen sind. Diese Auseinandersetzungen werden fast täglich im Privaten und in der Öffentlichkeit, in Schulen, Zeitungen und Initiativen geführt; nur einen kleinen Teil der nötigen Überzeugungsarbeit für das, was die Mehrheit für fortschrittlich hält, kann das Strafrecht vorantreiben. Das Strafrecht ist für die krassen Übertretungen da; um eine gelingende Alltagspraxis zwischen Menschen unterschiedlicher Auffassungen zu schaffen, sind andere gesellschaftliche, soziale, pädagogische Mittel gefragt.

All das ist im Grunde ja nichts Neues; nur gerät es oft, wenn es um "neue" Gruppen innerhalb Deutschlands geht, in Vergessenheit. Seitdem wir wissen, dass es keine weiblichen Imame in Deutschland gibt, sprechen wir nicht mehr über fehlende katholische Priesterinnen. Manche Bürger wünschen sich für den Einbürgerungstest eine Gesinnungsprüfung, die nicht jeder Deutsch-Deutsche bestehen würde, zum Beispiel, was Homosexualität angeht.

Viele würden am liebsten alles verbieten, was für sie (obwohl sie nicht viel darüber wissen), nach einer Benachteiligung von Frauen aussieht. Nahezu ungehemmt entfalten sich bei manchen Politikern und Medien derzeit Phantasien für neue Verbote, mit denen die Gesetzgebung bei Migranten stark in das eingreifen würde, was man bei Deutsch-Deutschen als "Privatleben" oder "Meinungsfreiheit" kennt - zum Beispiel mit einem Minarett-, Kopftuch- oder Burka-Verbot. Aber Pluralismus bleibt Pluralismus, ob der Vertreter einer missliebigen Meinung nun einen deutschen oder einen türkischen Namen trägt. Von der Lage der Argumente her macht es keinerlei Unterschied, ob ein Frauenverächter in Deutschland, Russland oder China geboren ist; und es gibt auch keine Abstufungen der Legitimität. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gilt für alle, und die Familien aller sind im selben Maße schützenswert.

Doch gibt es nicht die Pflicht zum Schutz der Schwächeren, fragt nun die Gegenseite. Müssen wir nicht die anleiten, die "traditionell" erzogen wurden und im alten marxistischen Sinne "verblendet" sind? Kurz: Sollten wir nicht vielleicht das Kopftuch verbieten, weil es für die Frauen selbst besser ist? Nein, denn die Freiheit der Meinung gilt auch und sogar insbesondere für das Recht, eigene Lebensentscheidungen zu treffen.

Auf welche Linie sollen wir sie denn bringen?

Grundsätzlich unterstellen wir unter gesunden Erwachsenen, dass der Andere die Kompetenz zur eigenen Entscheidung besitzt. Wir mögen manche dieser Entscheidungen dumm oder falsch finden, doch Demokratie lebt von der Autonomie des Einzelnen. Dieses Gebot zur Unterstellung der Autonomie setzt dem gesetzgeberischen Paternalismus Grenzen. Der Konsum von Alkohol und Zigaretten, an dem 200 000 Deutsche jährlich sterben, ist für Erwachsene erlaubt. Warum? Nun: Zum Recht auf eigene Entscheidung gehört auch das Recht, sich für eine Lebensweise zu entscheiden, die für einen selbst schädlich ist.

Natürlich ist das Anlass für Konflikte, für Diskussionen, für Überzeugungsarbeit. Wer das Gefühl hat, eine langjährige Freundin habe einen Mann geheiratet, der ihr auf eindeutige, aber noch nicht strafrechtlich relevante Weise das Leben zur Hölle macht, wird mitleiden und auf die Freundin einreden, möglicherweise bis die Freundschaft (wahrscheinlicher als die schreckliche Ehe) zerbricht. Und dennoch: Es sind keine speziellen gesetzgeberischen Leistungen erforderlich, um Gesinnung und Verhalten der Migranten "auf Linie" zu bringen. Auf welche denn? Wir können nicht Ayse einen Fehler verbieten, den Angelika genauso macht. Wir dürfen Herrn Öztürk nicht den Pass verweigern wegen einer Auffassung, die man Kardinal Lehmann unwidersprochen durchgehen lässt.

Einwanderung hat die pluralistischen Konflikte um einige Quellen bereichert. Etwas grundsätzlich Neues gebracht hat sie diesbezüglich nicht. Wenn also die Unterschiede, die oft als multikulturelle Konflikte beschrieben und verzerrt werden, tatsächlich nur Merkmale eines Pluralismus unter den Bedingungen einer Einwanderungsgesellschaft sind - was bleibt dann vom Multikulturalismus? Die Einsicht, dass dieser Pluralismus unhintergehbar und irreversibel ist.

Die Kulturkämpfer können jammern und zetern und anderen die Schuld an der allgemeinen Misere geben solange sie wollen; diese "Anderen" werden nicht gehen. Sie sind längst ein Teil von "uns". Ein Bekenntnis zum Multikulturalismus heißt daher nicht, jede einzelne Meinung gleichermaßen zu schätzen. Sondern dass ein faires Austragen dieser Konflikte und ein gleichberechtigtes Zusammenleben für eine lebendige Weiterentwicklung unserer westlichen Demokratien unerlässlich sind.

© SZ vom 23.2.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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