IS-Propaganda:Zielpunkt: Grauzone

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Der jüngste Essay der Terroristen in ihrem Propaganda-Blatt "Dabiq" zielt auf die immer noch sehr terroruninteressierten islamischen Massen in Europa. Repro: SZ (Foto: a)

Der Terror versucht seit Langem schon Eingang in unsere Ohren zu finden. In der Zeitschrift Dabiq werben die Terroristen für das, was sie antreibt: Eine Attacke auf auf einen Islam, der liberal, friedlich, reformerisch und europäisch daherkommt.

Von Johan Schloemann

Der IS-Terror stürmt mit todesbereiten Kriegern heran. Aber er versucht auch, mit einigem Erfolg schon, durch Augen und Ohren Eingang zu finden.

Einen Teil dieser Arbeit erledigen, aus der Sicht der Dschihadisten, die westlichen Medien selbst, indem sie breit über den Schrecken berichten und damit auch den Radikalismus von Rechtspopulisten anstacheln. Zum ideologischen Kampf dienen außerdem die berüchtigten Horrorvideos, aber auch programmatische Texte, die weniger bekannt sind, weil verständlicherweise kaum einer außer der fanatisierten Zielgruppe Lust hat, das Zeug zu lesen.

Der amerikanische Anthropologe und Terrorismusforscher Scott Atran, der in Paris lehrt, weist jetzt auf einen solchen Text hin, der hilft, die jüngste Strategie des IS in Europa zu erklären. Veröffentlicht wurde er im Februar, nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo, in der IS-eigenen Propagandazeitschrift Dabiq. Dieses frei zugängliche Online-Organ, das in der Aufmachung wie ein westliches Nachrichtenmagazin daherkommt, ist nach der nordsyrischen Stadt Dabiq benannt, die die IS-Milizen voriges Jahr eingenommen haben. Laut einer islamischen Prophezeiung soll in Dabiq eine entscheidende Schlacht zwischen Christen und Muslimen stattfinden, als Vorbotin der Apokalypse.

Der 12-seitige Dabiq-Beitrag aus dem Frühjahr - man zögert, ihn einen "Essay" zu nennen - trägt den Titel "The Extinction of the Grayzone". Mit dem Kalifat des IS sei jetzt "die Zeit gekommen", heißt es da, "noch mehr Zerwürfnis in die Welt zu bringen und allerorten die Grauzone zu zerstören". Mit diesem ausführlich empfohlenen Zielpunkt "Grauzone" meinen die anonymen IS-Autoren mehreres: zum einen die Indifferenz in der ungläubigen Welt. Also all jene dekadenten, vergnügungssüchtigen Weicheier, die weder beim "Kreuzzug" des vermeintlich christlich geführten Westens mitmachen noch zum IS überlaufen. Der Hass gilt einem ungreifbaren Pluralismus, der bloß Gesellschaft ist, aber nicht Gemeinschaft.

Die "Grauzone" umfasst aber auch - und das scheint den IS-Ideologen fast die noch wichtigere Adresse zu sein - all das, was sich einem liberalen, friedlichen, reformerischen, "europäischen" Islam zuordnen lässt. An alle "Heuchler", die nicht den Kampf gegen die Ungläubigen unterstützen, also an Millionen von muslimischen Bürgern hier und anderswo, wird die Warnung gerichtet: "Die Option, als reiner Beobachter an der Seite zu stehen, verschwindet."

Dass man nicht neutral und unabhängig sein dürfe, ist seit jeher ein klassischer Gedanke des Bürgerkriegs. So gesehen, wäre eine Antwort auf die Morde von Paris, die ihre Drahtzieher am meisten irritieren dürfte, gerade nicht die in diesen Tagen viel beschworene "Geschlossenheit". Sondern die Ausweitung der Grauzone.

© SZ vom 17.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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