Internetkunst:Das Gedächtnis des Internets

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Die Net Art Anthology versammelt netzbasierte Kunst aus vier Jahrzehnten auf einer Webseite. So soll eine flüchtige Form vor dem Vergessen bewahrt werden.

Von Thomas Jordan

Ein bisschen unwohl sei ihm schon dabei gewesen, aus der großen Vielfalt der Internetkunst 100 Werke auszuwählen, sagt Michael Connor. Aber Kanonbildung müsse sein, sagt der Kurator des Projektes "Net Art Anthology " (https://anthology.rhizome.org ), sie bewahre vor dem Vergessen.

Für eine fluide Kunstform wie Net Art ist diese Gefahr besonders groß: Das Internet ist für Netzkunst, was für den Maler Pinsel, Leinwand und Galerie sind - Arbeitsinstrument und Ausstellungsfläche zugleich. Damit ist es immer auch Chance und Gefahr zugleich. Denn ohne Gegenhalt im nicht-virtuellen Raum ist Net Art stets davon bedroht, im tagtäglichen digitalen Rauschen unterzugehen.

Und das wäre schade, weil die Netzkunst-Auswahl des Rhizome-Kuratorenteams kluge künstlerische Kommentare zu Politik, Medien und Gesellschaft nicht nur in den USA, sondern weltweit bereithält. Die Sammlung ist aber nicht nur Ausstellung, sondern bildet auch ein kleines Archiv mit repräsentativen Netzkunstwerken für die Jahre 1984 bis 2016. Und als solches will das ambitionierte Online-Projekt, zu dem es am New Yorker Museum of Contemporary Art noch bis Mai eine Begleitschau gibt, die digitalen Datenströme besser verständlich machen. "Wir erfahren dadurch, dass das Internet nichts einmalig Gegebenes ist, sondern einem ständigen Wandel unterworfen ist", sagt Michael Connor.

Anfangs erkundeten Künstler die Kommunikation des Netzes, später wurden sie politisch

Das Homepagedesign der digitalen Sammlung erinnert an die Entstehungszeit des Internets in den Achtzigerjahren. Die Geschichte der Netzkunst begegnet einem hier als eine Art überdimensionierter, in wechselnden, psychedelischen Farbhintergründen gehaltener Adventskalender. Wer beim Runterscrollen auf eines der 100 weißgerahmten, rechteckigen Türchen klickt, bekommt in Großaufnahme Bilder, Videos und Informationen zum jeweiligen Kunstwerk.

Oft, wie etwa bei Eduardo Kacs "Reabracadabra", einem digital erzeugten Gedicht aus dem Jahr 1985, ist das Material so reichhaltig, dass es schon fast eine eigene Ausstellung bilden könnte. Neben Informationen zur politischen Situation in Brasilien zur Entstehungszeit und einem Audiokommentar des Künstlers finden sich dort auch Erläuterungen zur Technik hinter der Net Art: "Reabracadabra" wurde etwa auf "Videotexto" erstellt, einem brasilianischen Vorläufer des Internets.

Es ist nicht immer ganz einfach, sich auf der farbenfrohen Homepage der Net Art Anthology zurechtzufinden. Denn die Idee, Netzkunst nach vier Zeitabschnitten, den "Chapters" (1984-1998, 1999-2004, 2005-2010 und 2011-2016) systematisch zugänglich zu machen, wird durch das Adventskalenderprinzip durchkreuzt. Grob jede Woche wird ein neues Netzkunstwerk freigeschalten, erst dann kann man auf die Großansicht des Werks und die Infomaterialien zugreifen. Seit 2016 gibt es die Net Art Anthology, etwa drei Viertel der 100 Kunstwerke sind schon zugänglich.

Eines der jüngst freigeschalteten Objekte ist "Youth Mode A Report on Freedom" des New Yorker Kollektivs K-Hole aus dem Jahr 2013. Man sieht darauf in hochauflösender Fotoqualität einen jungen Mann mit Angel im meterhohen Gras vor etwas stehen, das man schemenhaft als ausgetrocknetes Flussbett identifizieren kann. In fetten, weißen Werbebuchstaben steht darauf der Slogan: "Being special vs. Being Free". Net Art macht es dem Betrachter hier möglich, genau den einen Schritt neben die tägliche kommerzielle Bilderflut im Internet zu treten, mit dem ein hochauflösendes Freiheitsversprechen als absurder Werbegag erkennbar wird.

Nicht immer gelingt es der Online-Sammlung allerdings so gut wie bei Youth Mode, Netzkunst in Szene zu setzen. Mal liegt das daran, dass von einer Performance nur noch einzelne Bilder existieren, mal kämpft die Darstellung ausgerechnet mit der Technik. So dürfte etwa Jonas Lunds "I'm here and there" aus dem Jahr 2011, eine Live-Mitsicht aller Homepages, die der Künstler jeweils gerade besucht, viele Browser überfordern.

Einzelne Ausfälle dieser Art sind jedoch zu verschmerzen, denn was die Net Art Anthology so besonders macht, ist gerade das, was erst aus der Zusammenstellung der einzelnen Kunstwerke deutlich wird: wie Netzkunst die Entwicklung des Mediums Internet spiegelt und reflektiert. Während Net Art in den Anfangsjahren fasziniert die neuen kommunikativen Möglichkeiten der Netzwerke ausprobiert und weiterdenkt, wie etwa Eduardo Kacs Videotexto-Gedicht, verschiebt sich in den späten Neunzigerjahren der Fokus. In Zeiten von New Economy und dem Platzen der Dotcom-Spekulationsblase erkundet Netzkunst vermehrt die Abgründe des kommerzialisierten Web. Etwa mit "Black Net Art Actions", einem Ebay nachempfundenen, fiktiven Auktionsportal, auf dem der Künstler Keith Obadike sein Schwarzsein zur Ware macht, die ersteigert werden kann.

Noch ein paar Jahre später sind es dann Kunstwerke wie "Nine Eyes of Google Street View" von Jon Rafman aus dem Jahr 2008, die danach fragen, welche Auswirkung Automatisierung und algorithmisierte Datensammelwut auf das Leben und die Kunst haben. Netzkunst, das zeigt die Net Art Anthology des Rhizome-Kuratorenteams, hat das Potenzial, aus dem tagtäglichen digitalen Rauschen Töne und manchmal sogar ganze Sätze herauszuhören - und das Internet dadurch besser zu verstehen.

© SZ vom 28.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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