Internationale Literatur:Liebe in Gedanken

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"Die Geschichte einer kurzen Ehe" und "Exit West": Zwei Romane aus Südostasien erzählen Geschichten von den begrenzten Möglichkeiten der Liebe in Zeiten von Flucht und Verfolgung.

Von Meredith Haaf

Flucht ist das neue Normal, jedenfalls in einigen Teilen der Erde. Eine nicht ganz unbeträchtliche Minderheit der Weltbevölkerung befindet sich auf der Flucht, 65 Millionen Menschen zählten die Vereinten Nationen vor ein paar Monaten. Mit jeder Woche werden es mehr. Flucht bedeutet fast immer die letzte Chance auf ein erträgliches Leben. Für viele mag sie aber auch auf kleine und große Weisen das Ende dessen einläuten, was sie sich unter einem Leben vorgestellt hatten. In seinem Debütroman "Die Geschichte einer kurzen Ehe" erzählt der junge Autor Anuk Arudpragasam das ganze Ausmaß dieser millionenfachen persönlichen Katastrophe in einem kleinen Dialog.

Mit seinem neuen Roman steht Mohsin Hamid auf der Shortlist des Man Booker Prize

Zwei junge Menschen, Dinesh und Ganga, haben sich in einem Flüchtlingslager im Dschungel eines nicht geografisch näher benannten Landes getroffen und daraufhin geheiratet. Dinesh verbringt seine Tage damit, Verwundete in die Lagerklinik zu schleppen, die Nächte wacht er alleine, hungrig, im Trauma erstarrt, abseits des Lagers im Dschungel durch. Dort fühlt er sich sicherer, denn jederzeit könnten die Rebellen, die sein Land in den Bürgerkrieg gestürzt haben, dort auftauchen und ihn als Kämpfer zwangsrekrutieren. Ganga hilft ebenfalls Verletzten, sie schleppt eine große Tasche mit sich herum, voll gepackt mit sauberer Wäsche. Es ist ihr Vater, der die Heirat vorschlägt, als Absicherungsmanöver für seine Tochter. Kurz nach der Zeremonie verschwindet er für immer. An ihrem ersten und letzten gemeinsamen Abend liegen diese beiden Unbekannten, die sich aneinander gebunden haben, obwohl sie nichts außer den Aufenthaltsort voneinander wissen, nebeneinander. Dinesh fragt Ganga etwas, das er sie in einer idealen Liebesgeschichte nicht fragen müssen sollte: "Bist du glücklich, dass wir hier zusammen sind?" Und Ganga, das große Mädchen mit den ernsten Augen, sagt nur: "Was passiert, passiert, und wir müssen es hinnehmen. Glück und Trauer sind etwas für Leute, die Kontrolle über das haben, was ihnen passiert." Es gibt in diesem Buch viele eindringliche Beschreibungen von abgetrennten Gliedern, von Verzweiflung und Zerstörung, aber dieser kleine, leise Dialog wühlt beim Lesen in unsichtbaren Abgründen.

"Es scheint etwas Gutes an sich zu sein, den eigenen Sinn dafür zu schärfen, wie viel Leid durch die Bösartigkeit von Menschen ausgelöst wird in dieser Welt, die wir mit anderen teilen", schreibt Susan Sontag in ihrem Essay "Das Leiden anderer betrachten". Es ist aber auch etwas Gutes an sich, den Sinn dafür zu schärfen, wie viele Menschen sich zumindest bemühen, gut zu anderen zu sein. Dem 28-jährigen Arudpragasam gelingt beides zugleich.

Das ist nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass die Themen Krieg und Liebe uns auf allen Kanälen umgeben. Und dann sieht Krieg in der bildlichen und literarischen Übertragung immer irgendwie ähnlich aus. Das Grauen, das bei Curzio Malaparte über den verwüsteten Landstrichen der Ukraine liegt, kann man in den Reportagen aus dem aktuellen Krieg in Syrien wiedererkennen. Arudpragasam, der in Colombo, Sri Lanka, lebt, spart nicht an Details und Nahaufnahmen des Ausnahmezustandes. Doch dann sucht er sich eben die schönste Fähigkeit des Menschen - nämlich die Fähigkeit zu lieben und für andere zu sorgen - heraus. Er wirft sie in diese grauenhafte Szenerie und zeigt die extrem begrenzten Möglichkeiten eines Gefühls, das wir gewohnt sind für allmächtig und unwiderstehlich zu halten.

Flucht ist einerseits die Erfahrung einer Wegwärts-Bewegung. In gewisser Weise muss man Flucht vielleicht aber auch als einen Ort verstehen, an dem sich ein Mensch verlieren und wieder finden kann und der bisweilen schwer oder gar unmöglich zu verlassen ist. Davon erzählt der pakistanische Autor Mohsin Hamid in einem beeindruckenden neuen Roman. "Exit West" ist nicht länger als Arudpragasams Buch, eröffnet aber ein ganz anderes zeitliches, räumliches und emotionales Panorama. Hamid ist ein Erzähler auf dem Höhepunkt seines Schaffens, sein international erfolgreicher Roman "Der Fundamentalist, der keiner sein wollte" wurde verfilmt, mit seinem neuen Werk steht er auf der Shortlist für den Man-Booker-Preis.

Auch hier geht es um Liebe. "In einer von Flüchtlingen wimmelnden Stadt, in der es überwiegend friedlich zuging oder zumindest kein offener Krieg herrschte", treffen sich Saeed und Nadia in einem Abendkurs über Corporate Identity. Er ist Werber, lebt bei seinen Eltern, ist religiös und verletztlich. Sie arbeitet im Callcenter und raucht in ihrer Freizeit gerne mal einen Joint. Sie lebt alleine und trägt zum Selbstschutz einen traditionellen schwarzen Umhang, der sie wie eine Gläubige aussehen lässt.

Nadia und Saeed beschlossen, einander beizustehen, weil es sonst keiner tut

Mit ihren tiefreligiösen Eltern ist es zu einem so heftigen Streit gekommen, "dass ihre Familie für Nadia von da an gestorben war und sie für ihre Familie, etwas, was alle vier für immer bereuen sollten, auch wenn keiner von ihnen einen Schritt in Richtung Aussöhnung machte, teils aus Halsstarrigkeit, teils weil sie nicht wussten, wie sie es anstellen sollten, und vielleicht auch, weil ihre Stadt in den Abgrund zu taumeln begonnen hatte, noch bevor ihnen bewusst wurde, dass sie ihre Chance verpasst hatten."

In diesem - zugegeben sehr langen - Satz steckt vieles von dem, was Hamids Buch so besonders macht. Die Verstrickung des äußeren Drucks einer politischen Krise mit den privaten emotionalen Verwerfungen, die jemand in Aachen genau so erleben könnte wie in Accra. Während die Lage eskaliert, verbreitet sich in der Stadt das Gerücht, dass es versteckte Türen gibt, durch die man sie gegen sehr viel Geld verlassen könne. In allen friedlichen Teilen der Welt - dem Westen des Titels - öffnen sich plötzlich Türen, durch die verstörte Menschen aus den Philippinen, aus Syrien oder Honduras fallen.

Nadia und Saeed rücken immer näher zusammen, und rasch ist nicht mehr klar, ob die anfängliche Verliebtheit wächst oder ob hier nicht einfach zwei Leute entschieden haben, zueinander zu stehen, weil es sonst keiner tut. Schließlich beschließen sie, die Stadt durch eine der Türen zu verlassen. Nadia verspricht Saeeds Vater, bei seinem Sohn zu bleiben: "Sie hatte das Gefühl, ihn zu töten, indem sie ihm das gewünschte Versprechen gab, aber so war nun mal der Lauf der Dinge, denn wer fortgeht, tilgt jene, die er zurücklässt gewaltsam aus seinem Leben, was in gewisser Weise einer Tötung gleichkommt."

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(Foto: verlag)

Anuk Arudpragasam: Die Geschichte einer kurzen Ehe. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser-Berlin-Verlag, Berlin 2017. 224 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro. Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag zur Verfügung.

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(Foto: verlag)

Mohsin Hamid: Exit West. Roman. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont-Verlag, Köln 2017. 223 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.

Es ist beeindruckend, wie Mohsin Hamid Absatz für Absatz mit dem Erzähltempo arbeitet, wie er die schleichende Rasanz eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs beschreibt und die Möglichkeiten persönlicher und kollektiver Utopien ausleuchtet, die auf den Zusammenbruch folgen können. Die Sprache des Romans ist mal reporterhaft beherrscht und distanziert, dann wieder zeugt sie von einer geradezu abgrundtiefen Menschenkenntnis und einer ungebremsten Hoffnungsfähigkeit, das ist eine große Übersetzungsleistung von Monika Köpfer.

Obwohl jede Tür, durch die Nadia und Saeed im Verlauf dieses Romans treten, jedes Lager, in dem sie gegen Hunger und Kälte und feindselige Mitbewohner kämpfen, ihnen deutlicher macht, wie verschieden sie sind, obwohl ihre Strategien, mit dem Verlust der Heimat und der Zugehörigkeit umzugehen, unterschiedlicher nicht sein können, bindet sie allein der Wille, einander zu lieben. Sie beziehen aus diesem Willen die Fähigkeit, alles durchzuhalten - bis die Welt in der sie leben, sie endlich willkommen heißt. Von den beiden als Paar ist dann schon nichts mehr übrig, doch dafür hat jeder von ihnen seinen Frieden gefunden. Es ist ein befreiender erzählerischer Zug, dass Hamid sich erlaubt, die Zweisamkeit seiner Protagonisten zugunsten einer größeren, kollektiveren Vision von Menschenfreundlichkeit aufzugeben. Nach langem Zögern erweist sich der Westen doch als Schauplatz des gerechtestmöglichen Zusammenlebens.

Kein erwachsener Mensch dürfe sich ein Wundern oder gar Fassungslosigkeit über die Ausmaße menschlicher Grausamkeit erlauben, schrieb Susan Sontag. Die Romane von Mohsin Hamid und Anuk Arudpragasem lassen über das Ausmaß menschlicher Zuneigung vor dem Hintergrund der Grausamkeit staunen, ohne es ihren Lesern leicht zu machen. Nicht nur deswegen sind sie mehr als nur erzählerische Dokumente einer komplizierten Gegenwart, sondern die Art lesenswerte Literatur, von der es für die Zukunft gar nicht genug geben kann.

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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