Intellektuellendebatte:Im toten Winkel

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Nach den Terroranschlägen in Frankreich wird dort derzeit über die Frage debattiert, ob Selbstmordattentäter Nihilisten sind, oder ob sie den latenten Nihilismus des Westens bloßlegen. Die Antworten dazu gehen sehr weit auseinander.

Von Joseph Hanimann

Nach Emmanuel Macrons Rede bei der Staatstrauerfeier im vergangenen Frühjahr für den bei einem Terrorakt umgekommenen Gendarmerieoffizier Arnaud Beltrame sprach die Pariser Tageszeitung La Croix von einer "spiritualité républicaine". Beltrame, seinen Angehörigen zufolge ein bekennender Katholik, hatte den sich auf den "Islamischen Staat" berufenden Geiselnehmer in einem südfranzösischen Supermarkt dazu überredet, statt der festgehaltenen Kassiererin ihn selbst als Geisel zu nehmen, und wurde dann wahrscheinlich im Handgemenge mit dem Terroristen von diesem tödlich verletzt. Als erfahrener Soldat habe er wohl gewusst, sagte Macron, dass er ein Rendezvous mit dem Tod habe, zugleich aber auch eins mit seiner eigenen Wahrheit als Mensch, als Soldat, als Chef. Der Terrorist hingegen habe, begierig aufs Nichts, nur Vernichtung gesucht.

Ist dem wirklich so? Unter Frankreichs Intellektuellen ist eine Diskussion aufgekommen, wo genau für uns die Herausforderung der islamistischen Terroristen und ihrer besonderen Einstellung zum eigenen Tod liege. Handelt es sich bei ihnen um schlichten Nihilismus? Schön wäre es, wenn sie wie wir glauben würden, nach dem Tod käme nichts mehr, schreibt der Essayist Régis Debray in seinem Buch "L'Angle mort" (Der tote Winkel). Ihnen gehe es aber gerade ums Ganze, das Reich Gottes und das ewige Leben, und unser sanfter, unverbindlicher Nihilismus mit seinem Traum von Körperfitness und verlängertem Wochenende komme ihnen bedauerlicherweise allzu schäbig vor. Diese Gottesfanatiker zwängen uns mit ihren Selbstmordattentaten, der aus unserem Blickfeld gerückten Frage des Todes ins Auge zu sehen. Denn mit unseren soziopolitischen Erklärungen allein bleibe das Thema im toten Winkel unserer Wahrnehmung, meint der Autor. Das Paradies, bis vor Kurzem nicht mehr als ein nettes Konversationsthema, ist - so der algerische Schriftsteller Kamel Daoud - weltweit wieder eine Sache auf Leben und Tod geworden. Unsere provinzielle Vorstellung von einer "entzauberten Welt", fügt Debray hinzu, halte gegenüber dieser Wirklichkeit jedoch nicht mehr stand.

Alain Badiou versteht den Dschihad-Terrorismus nicht als Außenbedrohung, sondern als Eigenproduktion unseres kapitalistischen Zivilisationsmodells

Dass die Dschihad-Kämpfer uns durch ihre Akte einen Spiegel unserer Schwächen vorhalten, davon ist auch Jean Birnbaum, Literaturchef bei der Zeitung Le Monde, überzeugt. In seinem neuen Buch "La religion des faibles" (Die Religion der Schwachen) plädiert er dafür, sie nicht als pathologische Fälle, als Sozialopfer oder irregeleitete Randphänomene zu sehen, sondern als das, wofür sie sich selbst ausgeben: Elitetruppen des Kampfs gegen unsere Zivilisation. Birnbaums Argumentation richtet sich gegen jene Denker, die das Thema seiner Ansicht nach politisch kleinreden.

Zu ihnen zählt er den Philosophen Alain Badiou, der in seinem nach dem Bataclan-Attentat erschienenen Buch "Notre mal vient de plus loin" (Unser Übel rührt von weiter her) den Dschihad-Terrorismus nicht als Außenbedrohung, sondern als Eigenproduktion unseres kapitalistischen Zivilisationsmodells versteht.

Unsere Hölle macht niemandem mehr Angst und das Paradies ist uns allenfalls noch als Steuerparadies bekannt

Tatsächlich bekämpften diese Leute auf ihre radikale Weise das, was wir selber oft kritisierten, schreibt dagegen Birnbaum: unsere mangelhaften Freiheiten, das häufige Versagen unserer Institutionen, die nicht gehaltenen Versprechen unserer Demokratie. Vor allem führten sie uns durch ihr Anderssein vor Augen, wie halbherzig wir noch an all das glauben. Erst wenn wir verstanden hätten, meint der Autor, dass wir gegenüber ihren verabsolutierten Heilslehren unsere Selbstrelativierung aufgeben müssten, gebe es für uns eine Chance, die Glaubensgemeinschaft der "Schwachen" zu verlassen.

Nicht aufrüttelnd, sondern fast schon resigniert betrachtend gibt sich Debray in seinem lesenswerten, ursprünglich aus einem Vortrag entstandenen Buch. All unsere Maßnahmen gegen religiös motivierten Radikalismus seien vergeblich, solange wir überzeugt wären, der althergebrachte Unsinn eines zürnenden Gottes sei nur noch Stoff für die aufgeklärten Morgennachrichten und gehaltbeziehende Karikaturisten. Die Hypothese, es handle sich dabei um letzte Residuen archaischer Barbarei, habe sich als falsch erwiesen, denn "das Archaische hat kein Verfallsdatum". Die wirtschaftlich forsche Globalisierung geht laut Debray mit einer "kulturellen Balkanisierung" zusammen.

In Europa, wo der Schalter für Fragen der Eschatologie gegen Ende des 18. Jahrhunderts zugemacht habe, sei das aber vergessen gegangen. Unsere Hölle macht niemandem mehr Angst, und das Paradies ist uns allenfalls noch als Steuerparadies bekannt. Das westliche Christentum sei eine Art besserer Humanismus geworden, das "Dies irae" aus dem Requiem gestrichen, und unsere nett aufbereiteten Toten in den Leichenhallen und auf den immer weiter vom Stadtrand entfernten Friedhöfen seien wie Obdachlose. Denn die Abschaffung der unsterblichen Seele sei mit dem Traum vom unsterblichen Körper entschädigt worden.

Der Soziologe Edgar Morin, in seinen frühen Jahren Verfasser des Buchs "L'Homme et la Mort" (Der Mensch und der Tod), kann dies bestätigen, sieht es aber positiver. Zuerst sei er von der Zurückdrängung des Todes durch die Technik überzeugt gewesen, gesteht er, dann habe er nicht mehr daran geglaubt und nach den neusten Entwicklungen sei er wieder fest davon überzeugt.

Solche Diagnosen wollen nicht als brillante kulturpessimistische Stilübungen an der Schwelle zum Jenseits verstanden werden. Sie weisen auf handfeste Konsequenzen. Ausdrücke wie jenen vom "Krieg gegen den Terrorismus" hält Régis Debray für fragwürdig, weil er eine wesentliche Asymmetrie außer Acht lasse: Einer, der fürs Jenseits stirbt, stirbt nicht mit derselben Überzeugung wie ein Polizist oder Soldat, für den das Sterben Berufsrisiko ist.

Die überwältigende Vorherrschaft des Westens durch Drohnen, Kampfflugzeuge und Präzisionsraketen stößt, so Debray, an ihre Grenzen in den Grautönen des Geländes, wo man sich im Kampf direkt gegenübersteht. So gut wie alle westlichen Einsätze der letzten Jahre endeten damit, dass die Truppen unverrichteter Dinge wieder nach Hause kehrten und dort alleine blieben mit ihrer Erfahrung, dass im Krieg auch real gestorben wird. Zwischen dem einsamen Heldenakt und den wie Naturkatastrophen daherkommenden Bombenexplosionen ist in unserer Zivilisation eine Lücke entstanden, die sprachlos und fassungslos macht. Wie als Bestätigung darauf hat der französische Präsident Macron nun gerade auch noch die Schaffung eines Museums für die Opfer terroristischer Attentate angekündigt. Ein neuer toter Winkel für Trauer, Besinnung und Unverständnis.

© SZ vom 28.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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