Inklusionstheater in Darmstadt:Schönheit der Reduktion

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"Das Wesentliche ist übrig geblieben": Schauspieler Samuel Koch. (Foto: dpa)

Das Darmstädter Ensemble hat künftig zwei Schauspieler, die im Rollstuhl sitzen: Samuel Koch ist seit seinem Unfall bei "Wetten, dass..?" gelähmt, Jana Zöll hat Glasknochen. Kann Inklusionstheater funktionieren?

Von Mounia Meiborg

Der Rollstuhl blinkt. Auftritt Samuel Koch. Von hinten fährt er auf die Probebühne. Alle schauen ihn an. Er spielt einen berühmten Arzt, eine Koryphäe. Keinen Kranken, sondern einen, der Kranke heilt. Samuel Koch probt gerade "Madame Bovary". Und während er auftritt, ertappt man sich bei dem Gedanken: Geht das überhaupt? Es klingt verrückt. Da will einer, der vom Hals abwärts gelähmt ist, Theater spielen. Eine Figur verkörpern. Bloß: Womit? Mit welchem Körper? Lässt sich eine Figur nur mit dem Gesicht und mit der Stimme erschaffen?

Am Staatstheater Darmstadt glaubt man: ja. Von dieser Spielzeit an sind zwei Schauspieler im Ensemble, die im Rollstuhl sitzen, Samuel Koch und Jana Zöll. Sie werden große Rollen spielen und kleine. Ihr Äußeres soll mal eine Rolle bei der Besetzung spielen, mal nicht. Kurz: Sie sollen sein wie alle anderen im Ensemble.

Inklusion? Der Intendant spricht lieber von "Einzigartigkeit"

Das ist neu. Es gibt natürlich Behindertentheater-Gruppen wie Rambazamba in Berlin, das Theater Hora in Zürich oder das Back to Back Theatre aus Geelong / Australien, die seit Jahrzehnten ihre Arbeit machen. Es gibt Inklusionsfestivals. Aber in die Staats- und Stadttheater dringt das nur selten vor. Wenn doch, dann ist oft die Behinderung das Thema der Inszenierung, wie bei Jérôme Bels gefeierten "Disabled Theater", das im vergangenen Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen war.

Der neue Intendant in Darmstadt, Karsten Wiegand, will das anders machen. Es ist ein Versuch in und mit einer Stadt. Was passiert, wenn der Zuschauer immer wieder Schauspieler sieht, die im Rollstuhl sitzen, in verschiedenen Rollen? Gewöhnt er sich daran? Wird es normal? Es steckt darin auch die Sehnsucht, dass das Theater, dieser Ort der Utopien, die Wirklichkeit nicht nur nachahmt, sondern formt.

Dabei, das ist Karsten Wiegand wichtig, waren künstlerische Kriterien entscheidend. "Wir haben die beiden Schauspieler ausgewählt, weil sie im Vorsprechen unsere Phantasie geweckt haben", sagt er. "Zu welchen Mitteln jemand greift, um eine Figur entstehen zu lassen, ist mir erst mal egal. Hauptsache, die Figur entsteht."

Er will sein Inklusionsensemble auch gar nicht groß zum Thema machen. Auf der Homepage findet sich das Wort "Inklusion" nirgendwo. Ohnehin spricht Wiegand lieber von "Diversität" oder "Einzigartigkeit". Natürlich verändert das künstlerische Vorhaben zugleich das Haus, ein Stadttheater mit drei Sparten, 550 Mitarbeitern und festen Abläufen. Rampen müssen gebaut, Parkplätze verlegt, Duschen angepasst werden, damit alles, wie es so schön heißt, barrierefrei wird. Jeden Tag stellen sich neue Fragen. Zum Beispiel, wie man eine Anprobe mit einer Schauspielerin macht, die Glasknochen hat.

Verwandlung meist nur in eine Richtung

Jana Zöll rollt vorweg. Ihre Assistentin läuft hinterher. Der Schminktisch ist ein bisschen zu hoch. Sie stützt die Arme auf und taucht das Schwämmchen in die schwarze Schminke. Dann malt sie sich die Augenpartie an. Dazu einen Schnurrbart. "Das ist ein bisschen sehr Pandabär", sagt sie und reibt einen Teil der Schminke wieder ab. Jana Zöll spielt in "Der Kaufmann von Venedig" den Dogen. Eine kleine Rolle, aber die mächtigste Figur im Stück. Sie schlichtet am Ende den Streit. Aber erst mal muss sie warten. Geprobt wird auf der Bühne, der Regisseur Christian Weise übt Übergänge und Lichtstimmungen.

Der Shylock wird von einer Frau gespielt, die Amme von einem Mann, der Salarino ist schwarz. So what? Könnte man denken. Aber in Darmstadt, wo in den letzten Jahren vor allem opulente Opern zu sehen waren, muss sich vielleicht mancher Zuschauer noch daran gewöhnen. Und auch daran, dass diese Besetzung kein Statement sein muss, weder zu Genderfragen noch zur Integrationsdebatte.

Theater hat, anders als der Film, mehr Möglichkeiten zur Abstraktion, zur Verwandlung, Verfremdung. Viele Regisseure machen heute kein psychologisches Illusionstheater mehr. Aber viele besetzen die Rollen immer noch so. Da spielt der junge, intellektuell aussehende Schauspieler mit Dreitagebart den Hamlet und die junge, zarte Schauspielerin die Ophelia.

Wenn es eine Verwandlung gibt, dann meist in eine Richtung: Gesunde spielen Kranke. Schauspieler stellen den hinkenden Richard dar oder den buckligen Quasimodo. Selbst sollen sie unversehrt sein. Weil erwartet wird, dass sie ihre Mittel beherrschen, dass die Stimmen ausgebildet, die Körper trainiert und beweglich sind. Und vielleicht auch, weil wir Zuschauer das gerne sehen: schöne Menschen, ein kleines bisschen Hollywood.

Mittagspause auf der Probebühne in Darmstadt-Griesheim. Samuel Koch lässt sich von seiner Assistentin Nudeln an den Mund führen. Er sitzt in der Sonne und sieht blass aus. Bis vier Uhr nachts hat er Text gelernt. Er hätte sich früher nie vorstellen können, mal im Rollstuhl auf die Bühne zu kommen, sagt er. Er grinst. "Das widersprach meiner konservativen ästhetischen Vorstellung."

Die Schauspielausbildung in Hannover begann er, weil auf dem Stundenplan Fechten, Reiten, Tanzen standen. Dann kam der Unfall bei "Wetten, dass . .?" im Dezember 2010. Samuel Koch war im ersten Semester. Lange hat er überlegt, ob er trotz der Lähmung Schauspieler werden soll. Jetzt sagt er selbstbewusst: "Das Wesentliche ist übrig geblieben. Ich kann Leute zum Lachen, Weinen und Nachdenken bringen." Seine Abschlussarbeit an der Schauspielschule hat er über Behinderung auf der Bühne geschrieben. Der Titel: "Die Entdeckung des Schönen in der Reduktion". Jeden Tag ist er damit konfrontiert, dass sein Job eigentlich Dinge verlangt, die er nicht kann. Stehen zum Beispiel, laufen oder springen. Er nennt es "eine gesunde Konfrontation".

Der Rollstuhl ist sein wichtigstes Requisit. Als medizinische Koryphäe lässt er ihn blinken, "ein Spielangebot vom Samuel", sagt der Regisseur. In einer Szene lässt er den Sitz nach oben fahren wie in einer Arztpraxis. Ein andermal dient eine Halterung am Rollstuhl als Kamerastativ.

In "Madame Bovary" spielt er verschiedene Rollen, wie die anderen Schauspieler auch. Und das stellt eine zentrale Frage über das Verhältnis von Rolle und Schauspieler. Soll jede der vier Figuren, die er spielt, im Rollstuhl sitzen? Oder sitzt nur der Schauspieler im Rollstuhl? Und wenn ja, wie wirkt sich das auf die Inszenierung aus? Der amerikanische Literaturwissenschaftler Tobin Siebers spricht davon, dass ein behinderter Körper auf der Bühne "hyper-sichtbar" ist, dass er gewissermaßen vor die Rolle tritt.

Samuel Koch spielt Justin. Einen schüchternen Typen, der Emma Bovary auf eine unschuldige, kindliche Art liebt. Koch spielt an der Rampe eine Szene, in der Justin Emmas Schuhe putzt, die dreckig sind von den heimlichen Treffen mit ihrem Geliebten. Er sitzt da, mit verklärtem Gesicht, die Schuhe auf dem Schoß. Er spielt das ganz innerlich. Zerbrechlich wirkt er. Ein junger Mann, der nicht aus seiner Haut kann - das ist vielleicht der Schauspieler, vielleicht die Figur, vielleicht beides.

"Freakshow" lautet oft der Vorwurf, wenn Behinderte spielen

Jana Zöll hat an der Akademie für darstellende Kunst in Ulm studiert, der einzigen Schauspielschule in Europa, die Studenten mit Körperbehinderung aufnimmt. Drei Absolventen mit Behinderung sind es bislang. Als Zöll im Jahr 2008 ihren Abschluss machte, sagten ihr die Dozenten, sie solle nicht davon ausgehen, je ein festes Engagement zu bekommen.

Jana Zöll sitzt hinter der Bühne, sie lacht, als sie das erzählt. Ihr Vertrag in Darmstadt läuft zwei Jahre. Nach ihrem Abschluss hat sie sich an allen möglichen Bühnen beworben. Nur Sebastian Hartmann in Leipzig lud sie zum Vorsprechen ein.

In Hartmanns Inszenierung "Krieg und Frieden", die letztes Jahr beim Theatertreffen zu sehen war, spielt sie zugleich ein neugeborenes Baby und Napoleon Bonaparte. Mit Gurten ist sie auf der schrägen Bühne festgeschnallt. In einer Szene trägt ein Schauspieler sie über die Bühne, beide sind nackt. Auf den ersten Blick ist das schockierend: Sie wirkt entblößt, der Zuschauer scheint zum Voyeur zu werden. "Sebastian Hartmann kratzt gerne an der Grenze zur Freakshow", sagt Zöll. "Aber er überschreitet die Grenze nicht."

"Freakshow" - dieser Vorwurf wurde oft auch Christoph Schlingensief gemacht, der in seinen Produktionen - ob im Theater oder in seiner Casting-Show-Parodie "Freakstars 3000" - ganz offensiv mit körperlich und geistig Behinderten arbeitete.

Die Diskussion ist nicht neu. Schon 1985 trat Peter Radtke an den Münchner Kammerspielen in George Taboris "Medea"-Variation "M" auf. Radtke hat Glasknochen. Er spielte ein behindertes Kind. Gerhard Stadelmaier schrieb damals, Radtke sei nicht rezensierbar, er befinde sich "außerhalb jeder Theaterkritik".

Ein Schauspieler kann heute vieles sein

In den letzten dreißig Jahren hat sich viel verändert. Auch die Definition, was ein Schauspieler können muss, wie er auszusehen und zu sprechen hat. Dass Schauspieler Deutsch mit einem Akzent sprechen, war noch vor fünfzehn Jahren an vielen Häusern undenkbar. Heute vergisst man manchmal, ob auf der Bühne gerade Deutsch oder Englisch gesprochen wird.

Ein Schauspieler kann heute vieles sein. Ein Akrobat bei Herbert Fritsch, ein Diskurs-Lautsprecher bei René Pollesch, ein naturalistischer Seelen-Handwerker bei Andrea Breth. Eines aber hat sich nicht geändert: Besetzungsfragen sind immer noch Fragen der Macht und der Repräsentanz. Geprägt davon, was wir als Norm und was als Abweichung empfinden.

Natürlich ist ein Theater kein Wohlfahrtsverein, auch kein Integrationsbüro. Vielleicht passen bestimmte Behinderungen nicht zu bestimmten Spielweisen. Vielleicht bringen sie neue hervor. Wie viel Versehrtheit auf der Bühne Platz hat, wie viel Realität die Kunst verträgt - das wird sich weiter zeigen. Nicht nur in Darmstadt.

© SZ vom 25.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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