In fremden Zungen:Das Auge der Amsel

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Eliot Weinberger: Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten. Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender. Mit einem Nachwort von Octavio Paz. Berenberg Verlag, Berlin 2019. 112 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

Schlecht ist die aufdringliche Übersetzerstimme: Der amerikanische Essayist Eliot Weinberger denkt anschaulich und mit schönen Beispielen über das Gelingen und das Scheitern von Übersetzungen nach.

Von Nico Bleutge

Für die Dichterin Elke Erb sind Gedichte Lebewesen. Selbständige Geschöpfe, die nach Aufmerksamkeit verlangen, mit eigenen Körpern und Bedürfnissen. So ist es nur konsequent, wenn der amerikanische Essayist Eliot Weinberger auch Übersetzungen als lebendige Organismen betrachtet. Original und Übersetzung verhalten sich für ihn ein wenig wie Elternteil und Kind. Die übersetzten Gedichte schleichen sich in die Köpfe ihrer Leser ein, zetteln im glücklichsten Fall Gedanken an, manche hängen zu sehr am Original, "andere proben unablässig den Aufstand".

Was für Geschöpfe sind Übersetzungen eigentlich, lautet die Grundfrage seines Bändchens "Neunzehn Arten, Wang Wei zu betrachten". Im Mittelpunkt steht ein kleines Gedicht des chinesischen Dichters Wang Wei aus dem 8. Jahrhundert, vier Zeilen, eine Überschrift. Weinberger lehnt sich mit seinem Bekenntnis zu Variationen lose an Wallace Stevens' Zyklus "Dreizehn Arten, eine Amsel zu betrachten" an, der so beginnt: "Unter zwanzig Schneegipfeln / regte sich einzig / das Auge der Amsel." In Wang Weis Gedicht indes ist "niemand zu sehen", nicht einmal eine Amsel, es gibt nur einen Berg, einen Wald und das Licht der untergehenden Sonne, das auf etwas Moos fällt.

Aber heißt es wirklich "etwas Moos"? Und "gibt es" den Berg einfach - oder ist er nicht doch eher durch das Auge eines impliziten Betrachters anwesend, der ihn wahrnimmt?

Mit solchen Fragen ist man schon mitten in der Übersetzung, um die sich bei Weinberger alles dreht. Das fängt beim klassischen Chinesisch an, in dem das Gedicht geschrieben ist. Stellt hier ein Schriftzeichen tatsächlich ein Wort dar? Ist es bildhaft zu verstehen? So spinnen sich die Fragen fort, von der Transliteration in modernes Chinesisch bis zu Schreibtraditionen, die im Hintergrund wirksam sind: "Chinesische Lyrik basierte auf der genauen Beobachtung der fassbaren Welt." Wie unterschiedlich die Übersetzung sein kann, zeigt allein der Titel: "Hirschgatter", "Hirschpark-Einsiedelei", "Tief in der Bergwildnis" oder schlicht "Der Wald".

Das Buch ist 1987 erstmals erschienen, Weinberger hat es stetig um neue Arten erweitert. Nun kann man es in einer hübschen kleinen Ausgabe auch auf Deutsch lesen, von Beatrice Faßbender sehr schön übertragen.

Weinberger zeigt, wie sich Zeit und persönliche Vorlieben in jede Übersetzung einschreiben

Es ist ein Bändchen, das klug, komisch und überaus lehrreich ist. Man möchte es jedem Übersetzer, gerade von Lyrik, dringend ans Herz legen. Nahezu chronologisch geht Weinberger die verschiedenen Übersetzungsversuche durch. Und spart nicht mit bissigen Bemerkungen, wenn ihm etwas nicht gefällt. "Langweilig, aber einigermaßen direkt", gehört da noch zu den höflicheren Varianten. Andernorts heißt es: "Für mich klingt das wie Gerard Manley Hopkins auf LSD." Oder: "In dieser Übertragung scheint Wang die Welt durch einen Opiumschleier zu betrachten, gespiegelt in hundert weingefüllten Fingerhüten."

Dabei sind die kleinen Kommentare kein Selbstzweck. Weinberger zeigt, wie sich die Prägung durch die jeweilige Zeit oder poetologische und persönliche Vorlieben der Übersetzer hinterrücks in jede Übersetzung einschreiben. Vor allem aber geht es ihm um so etwas wie das Wesen oder die Kunst des Übersetzens.

Der Dichter H. C. Artmann hat einmal eine "Acht-Punkte-Proklamation des poetischen actes" geschrieben. Mühelos ließe sich aus Weinbergers Sätzen eine "Acht-Punkte-Proklamation des übersetzerischen actes" destillieren. Einer der wichtigsten Punkte darin wäre: "Übersetzung - eine eigene Art spiritueller Übung - hängt von der Auflösung des Übersetzer-Egos ab: eine unbedingte Demut vor dem Text. Eine schlechte Übersetzung ist die aufdringliche Stimme des Übersetzers."

Natürlich ist auch Weinbergers Idee vom Übersetzen relativ. Es gibt andere Vorstellungen, die das Persönliche des Übersetzers und die Angleichung an die jeweilige Gegenwart viel stärker betonen würden. So findet man auch in den Übertragungen, zu denen Beatrice Faßbender elf deutschsprachige Autorinnen und Autoren eingeladen hat, ganz unterschiedliche Stimmen. Manche von ihnen sind sehr nah am Original, manche würden sich mit ihrem Versuch der Aktualisierung vermutlich die eine oder andere kritische Bemerkung Weinbergers einhandeln.

Aber es sind eben verschiedene Ansätze. Hans Thills "spitzes moos" kann einen beim Lesen so begeistern wie Uljana Wolfs "moosdisplay ("Alle Angaben ohne Geweih."). Also auf nach Hirschheim, wo in Dong Lis Übersetzung die Abendsonne durch den dichten Wald bricht, "in blühendem Grün"!

© SZ vom 26.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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