Im Kino: "Stilles Chaos":Business as unusual

Lesezeit: 4 min

Es kann nur einen Mann an der Firmenspitze geben. Der andere muss nachsitzen in der Businesskrise - und seine Trauer mit Sex überwinden.

F. Göttler

Das Prinzip der Dreifaltigkeit in den Chefetagen wird in diesem Film diskutiert, Modelle werden durchgespielt aus dem Leben der Angestellten. Eine italienische TV-Gesellschaft will europäisch fusionieren, um im Geschäft zu bleiben, und die Frage ist, wer von den Topleuten bleiben kann und an welcher Stelle und wie viel Macht er dort haben wird.

Gemeinsam einsam auf der Parkbank: Valeria Golino und Nanni Moretti (links) in "Stilles Chaos". (Foto: Foto: Filmverleih)

Zwei der verunsicherten Manager spekulieren, für welches der Modelle man sich entscheiden sollte - das katholische oder das jüdische. Das eine sieht strengste Hierarchie vor, mit dem starken Mann an der Spitze, das andere nutzt das eher egalitäre Prinzip der Dreifaltigkeit. Einer wird also Gott sein und einer der Heilige Geist - aber wer wird wohl der Dritte sein in diesem Spiel, das ist die Frage, die den einen der Männer beunruhigt, wer ist der Sohn . . . "Du weißt doch, was mit dem Sohn passiert ist."

Ja, Pietro weiß es, und er sieht tatsächlich aus wie ein Jesus der modernen Businesswelt. Bärtig und bleich, erschöpft und geistesabwesend, ein wenig apathisch. Nanni Moretti spielt ihn, der geniale versponnene Aussteiger des italienischen Kinos. Er ist sehr relaxed in diesem Film, auch deshalb, weil er die Regie diesmal Antonello Grimaldi überlassen hat.

Das Gespräch der beiden Businesstypen findet auch nicht in den Bürogängen oder im Konferenzsaal statt, sondern in einem kleinen lauschigen Park in der Stadt. Vor der Schule, die Pietros Tochter besucht. Eines Tages ist er einfach dort sitzen geblieben auf einer Bank - ich warte auf dich, hatte er der Tochter hinterhergerufen, den ganzen Tag, ich rühr mich nicht von der Stelle. Von seinem Platz aus kann er das Fenster ihres Klassenzimmers sehen. Er favorisiert allemal die Präsenz, nicht die windigen Rollenspiele. Natürlich mag ihm keiner trauen, vermuten alle erst mal eine neuartige Erfolgsstrategie.

Einen richtigen Aussteiger kann man in Pietro dennoch nicht sehen. Er macht halt ein wenig weiter in der Tradition von Melvilles Bartleby, der vor Jahren zum Helden der Postmoderne befördert wurde. Pietro verweigert sich nicht, er bleibt weiter im Gespräch. Er hat es nur verlagert und offen gemacht - den Druck genommen, unbedingt zu einem Ergebnis und einer Entscheidung zu kommen. Business as unusual.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wodurch Pietro erlöst wird.

Pietros Frau ist plötzlich gestorben, und dieser Tod hat ein Loch in den Alltag gerissen - so war das schon in "Das Zimmer meines Sohnes", in dem Moretti den Verlust eines Kindes durch einen Unfall überwinden musste. Aber das Chaos, durch das er diesmal muss, ist ruhig, ist beruhigend. Er hockt da und schaut einem Mädchen nach, das seinen Hund vorbeiführt, einer Mutter mit ihrem Sohn, manchmal stehen Freunde und Verwandte vor ihm, der Bruder (Alessandro Gassmann) oder die Schwägerin (Valeria Golino), und im Hintergrund schieben sich immer wieder diskret die metallfarbenen Firmenwagen heran mit lauernden Kollegen und Vorgesetzten.

Die Auszeit wird zur Sprechstunde, Pietro mischt sich in alles Mögliche ein. Warum hast du Pecorino auf den Brokkoli getan, fragt er Mario, der das Restaurant am Platz führt: Brokkoli sollte wie Brokkoli schmecken. Du bist unsicher, also tust du zu viel Zeug drauf . . . Und Mario: Du kennst mich zu gut . . .

Pietro legt Listen an, ein schöner Versuch, noch einmal Ordnung zu bringen in seine Vergangenheit, einen Sinn in sein Leben. Die Fluglinien, die er in seinem Business benutzt hat. Die Straßen, in denen er wohnte. Die Dinge, die anzusehen er nicht ertragen konnte: Die Regale mit den Brillen der Toten im Lager von Auschwitz. Wie der Tochter Blut abgenommen wurde. Die grüne Kotze im "Exorzisten". Seine Frau, wie sie tot dalag, um sie her Melonenscheiben. Der Film erforscht, wie der fatale Fluss der Zeit gestoppt werden kann, ob das Leben wirklich unumkehrbar sein muss, irreversibel. Palindrome, lernt Pietros Tochter in der Schule, sind jene Wörter und Sätze, die von vorn wie von hinten gelesen identisch sind: "I topi non avevano nipoti."

Sex als Katharsis

Man mag es Stoizismus nennen, was Pietro da praktiziert, ein Stoizismus, der wechselt zwischen dem Pragmatischen und dem Somnambulen. Unfasslich, wie dieser Film sich innerhalb eines Jahres entwickelt hat - er lief auf der vorigen Berlinale im Wettbewerb -, wie das wirtschaftliche Chaos, das in dieser Zeit weltweit wuchs, parallel läuft zur ganz persönlichen Krise Pietros. Einmal schreitet auch jener Mann über den Platz, in dem alle den "boss of it all" sehen, er wirkt unberechenbar und schlitzohrig, denn er hat die Statur und das Gesicht von Roman Polanski.

Moretti hat keine Botschaft, die er anbringen will, er hat einfach Lust, von diesem merkwürdigen Mann Pietro zu erzählen - auch in seinem Film "Il Caimano" ging es nur am Rande um Berlusconi, den habe Italien, sagt Moretti, doch schon lang verdaut. "Stilles Chaos" reaktiviert subtil das revolutionäre Potential der Sechziger, das in Italien auf stille Weise überlebte, nicht kämpferisch radikal, eher in der Monsieur-Hulot-Tradition.

Aber kurz vor Schluss gibt es doch einen Befreiungsschlag, den in einem Morettifilm keiner erwarten würde. Harter Sex als Katharsis. So erschreckend ist das wie die Urszene, von der Freud erzählt - wenn das Kind den Eltern beim Sex zuschaut.

CAOS CALMO, I 2008 - Regie: Antonello Grimaldi. Buch: Nanni Moretti, Laura Paolucci, Francesco Piccolo. Nach dem Buch von Sandro Veronesi. Kamera: Alessandro Pesci. Mit: Nanni Moretti, Valeria Golino, Isabella Ferrari, Alessandro Gassman, Blu Yoshimi, Silvio Orlando, Hippolyte Girardot, Denis Podalydès, Charles Berling, Roman Polanski. Kool Filmverleih, 112 Minuten.

© SZ vom 29.1.2009/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: