Im Kino: "Lornas Schweigen":Vom besseren Leben

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Das Glück wird nicht gerecht verteilt: Im neuen Film der Brüder Dardenne ist die Titelheldin Komplizin und Opfer zugleich. Darf sie für ihren Traum das Leben eines anderen opfern?

S. Vahabzadeh

Beim Filmfestival in Cannes sind die belgischen Filmemacher Luc und Jean-Pierre Dardenne so etwas wie Halbgötter; sie haben zweimal die goldene Palme gewonnen, 1999 für "Rosetta" und 2005 für "L'Enfant".

Lorna, großartig gespielt von Arta Dobroshi, kommt vom vereinbarten Weg ab. (Foto: Foto: Piffl Medien)

Als sie dort im Frühjahr ihren neuen Film "Le Silence de Lorna - Lornas Schweigen" vorgestellten, der ein Festival lang ganz ernsthaft als Anwärter für eine sagenhafte dritte Dardenne-Palme gehandelt wurde, hat ein französischer Fernsehjournalist sie nach dem Schicksal ihrer früheren Figuren gefragt.

Der sanftmütige Ernst, mit dem die Dardennes diese Frage beantwortet haben, einander zustimmend und ergänzend, als hätten sie diese Menschen erst vor kurzen wieder gesprochen, wundert einen nicht, wenn man ihre Filme kennt: Sonia, die junge Mutter aus "Enfant", lebt jetzt mit ihrem Kind allein in Liège; Bruno, der Kindsvater, der versucht hat, es zu verkaufen, hat sich ein wenig gefangen, er hat eine Beziehung aufgebaut zu seinem Kind und besucht es manchmal.

Sie reden von ihren fiktiven Geschöpfen wie von den Menschen, die sie in den Achtzigern in ihren Dokumentarfilmen portraitiert haben. Und das kommt einem auch gar nicht albern vor, weil diese fiktiven Figuren tatsächlich genauso real und greifbar erscheinen.

Der unschätzbare Wert des Lebens

Ein Film ist die Geschichte eines Körpers, haben die Brüder einmal gesagt, und ein Körper ist nie nur Material, er ist das, wodurch wir uns als lebendig erfahren.

Das beschreibt ganz gut, was Lorna durchmacht. Die junge Frau - ganz großartig gespielt von Arta Dobroshi, die noch sehr wenig Schauspielerfahrung hat - ist aus Albanien nach Belgien gekommen, schon einige Jahre, bevor die Geschichte einsetzt. Wir begegnen ihr in dem Moment, als sie sich entscheiden muss, ob sie für ihren Traum vom besseren Leben das Leben eines anderen opfern will, und sie erfährt das als ganz und gar physischen Prozess.

Ein Menschenhändler hat Lorna nach Liège gebracht und eine Scheinehe arrangiert mit dem belgischen Junkie Claudy; die beiden leben in einem kargen kleinen Appartement, sie im Schlafzimmer, er campiert im Wohnzimmer.

Sobald sie belgische Staatsbürgerin ist, soll Claudy verschwinden, damit sie einen reichen Russen heiraten kann, der ebenfalls auf den begehrten Pass aus ist - den Deal hat der Menschenhändler längst abgeschlossen.

Lorna aber kommt vom vereinbarten Weg ab - sie kann sich plötzlich nicht mehr gegen Claudys Nähe wehren, lässt sich von seiner Hilflosigkeit rühren. Als die Dinge längst eskaliert sind, ist sie sich plötzlich sicher, schwanger zu sein - und es scheint, als würde das Kind in ihrem Bauch sie erst wieder zum Menschen machen und ganz elementar daran erinnern, dass sie für das Leben, das sie gewählt hat, eigentlich zu mitfühlend ist. Sie spürt sich selbst, und verzweifelt daran.

Eine Geschichte, so die Dardennes, über den unschätzbaren Wert des Lebens. Und darüber, dass Europa sehr kalt sein kann. Das Glück wird nicht gerecht verteilt, und eine wie Lorna kann auch einen noch so kleinen Anteil daran nicht mit lauteren Mitteln erkämpfen.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum die Figuren so greifbar sind.

Mit dem Geld aus dem Russen-Arrangement will sie zusammen mit ihrem Freund, auch der Albaner, eine Imbissbude in Liège aufmachen. Nicht gerade ein besonders glamouröser Traum - wir sehen ihr zu, wie sie mit freudiger Erregung die Bruchbude anschaut, die sie dafür auserkoren hat, begeistert von einer Zukunft träumt in diesem heruntergekommenen Haus. Eine kleine Existenz, doch selbst dafür muss eine andere erst zerstört werden.

Jérémie Renier, seit Kindertagen zum Ensemble der Dardennes gehörig - und zuletzt als Bruno in "L'Enfant" bei ihnen zu sehen - spielt diesen zerbrechlichen Claudy, ein zitterndes Wrack, er klaut, klammert, bettelt, und ist doch rührend in seiner Hilfsbedürftigkeit.

Und bei Lorna, die ja gleichermaßen Opfer und Komplizin ist bei dem geplanten Verbrechen, hat man von der ersten Einstellung an das Gefühl, dass ihre Kälte erworben, ihre Härte erlernt ist.

Die Ambivalenz dieser Figuren, wie sie von vorneherein angelegt sind - das Drehbuch hat dann in Cannes tatsächlich einen Preis gewonnen -, das leidenschaftliche Spiel, der forschende Blick der Kamera in die Gesichter, das macht diese Figuren so greifbar, so real, macht "Le Silence de Lorna" zu einem emotionalen Thriller.

Die Möglichkeit zur Umkehr

Fabio, der Menschenhändler, will Claudy mit einer Überdosis Heroin umbringen. Das Häufchen Elend, das er ist, wird keiner vermissen. Lorna will plötzlich lieber eine legale Scheidung erzwingen, fügt sich sogar selbst Verletzungen zu, um das vor Gericht durchzubringen, und hält daran fest, als ihr schon dämmert, dass sie sich damit auch selbst in Gefahr bringt.

Es gehört zur Weltsicht der Dardennes, dass die Menschen nicht von Haus aus schlecht sind. Sie wollen davon erzählen, dass es auf jedem Weg immer wieder die Möglichkeit zur Umkehr, zur Entscheidung gibt. Oder gäbe - wenn sich genug Menschen dazu durchringen könnten.

Lorna könnte Claudy retten, aber sie kämpft allein. Der Film hält die Spannung bis zum Schluss, bis die Geschichte die Frau ins Dunkel treibt, in einen qualvollen Dialog mit dem Kind, von dem man gar nicht mehr weiß, ob sie es wirklich bekommen wird - wenn es nur ihrer Sehnsucht entspringt, ist die auf jeden Fall so groß, dass man ihr zutraut, Berge zu versetzen. Das ist es vielleicht, was diesen Film letztlich so mitreißend und bewegend macht - der Triumph der Seele über die Physik, des Menschen über die Materie.

Die Dardennes haben im Dokumentarfilm ein einzigartiges Gespür für Räume entwickelt und fürs zurückgenommene Beobachten, und wenn man "Le Silence de Lorna" sieht, weiß man doch, warum sie sich vom Dokumentarfilm abgewandt haben - weil sie in ihren Fiktionen einen Weg gefunden haben, der Wirklichkeit tiefer ins Herz zu schauen, als reale Geschöpfe ihnen das gestatten; Lorna und Claudy und Bruno bleiben durch ihre rührende Entblößung unverletzt. Und nur was man wirklich fühlt, ist auch real.

Le Silence de Lorna, Belgien 2008 - Regie und Buch: Jean-Pierre und Luc Dardenne. Kamera: Benoit Dervaux. Mit: Arta Dobroshi, Jérémie Renier, Fabrizio Rongione, Alban Ukaj. Piffl Medien, 105 Minuten

© SZ vom 08.10.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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