Im Kino: Lars von Triers "Dogville":Die mit dem Hund tanzt

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Nicole Kidman brilliert in Lars von Triers "Dogville" und die weltbesten Drehbücher kommen sowieso aus Dänemark: Dabei erzählt der Film die grausame Geschichte einer mählichen Auslöschung.

TOBIAS KNIEBE

Dies ist die traurige Geschichte von Dogville, einem Marktflecken droben in den Felsigen Bergen, wo die Straße am Steilhang endet, nahe dem Tor der verlassenen Silbermine. Die Bürger, gottesfürchtige, rechtschaffene Leute, blickten voll Wohlgefallen auf ihr Städtchen. Mitten unter ihnen lebte Tom, ein Dichter, der die Stunde, da er wahrhaft zur Feder greifen würde, Tag um Tag hinausschob - alldieweil er seine Mitbürger anhielt, in abendlichen Zusammenkünften ihr moralisches Rüstzeug zu stärken. Wäre man in ihn gedrungen, das Ziel seiner Anstrengungen zu erläutern, ein einziges Wort hätte ihm genügt: Illustration.

(Foto: SZ v. 22.10.2003)

Ein neuer Film, ein neues Experiment, eine neue Provokation aus dem Hause von Trier - und wieder einmal ist es verblüffend, wie schnell es dem dänischen Meister gelingt, einen unnachahmlichen Ton zu etablieren. "Dogville" spielt in einem unbestimmten Land, das nur äußerlich an die USA erinnert, in einer unbestimmten Zeit, die nur oberflächlich die Zeichen der Depressionsära trägt.

Der Erzähler verbreitet Gemütlichkeit, seine Sprache ist voll romantischer Ornamente. Aber natürlich ist klar, dass man ihm keinesfalls trauen kann, schon in den ersten Sätzen blitzt sardonischer Humor auf. Die Felsigen Berge heißen in Wahrheit Rocky Mountains, ein durchaus realer und geläufiger Name, über den man normalerweise nie nachdenkt.

Nimmt man ihn aber beim Wort und erklärt ihn zum Schauplatz einer Parabel, bekommt alles sofort einen märchenhaften Touch. Und natürlich spielt es nicht die geringste Rolle, dass Lars von Trier die Rocky Mountains nie besucht hat; dass er, wie er gern bestätigt, Amerika bisher ferngeblieben ist. Berge können überall felsig sein, scheint er zu sagen - aber es gehört schon eine besondere Mentalität dazu, sie tatsächlich so zu taufen.

Um diese Mentalität geht es in "Dogville" - die Reduktion auf das Unzweideutige. Der ganze Film spielt auf einer leeren schwarzen Bühne, wo klare Benennung fast alle Kulissen ersetzt.

Man sieht die Dorfstraße nicht, man sieht nur riesige Lettern auf dem Boden, die von ihrer Existenz künden. Genauso fehlen die Häuser, aber ihre Grundrisse sind eingezeichnet und mit den Namen ihrer Besitzer versehen. Die alte Mine wird durch das Wort "Alte Mine" vertreten, der Hund durch "Hund". Man hört ihn immerhin bellen.

Wenn die Schauspieler durch unsichtbare Türen gehen, knarzen diese auch - der Rest ist Pantomime. Andere Requisiten sind jedoch erlaubt: Betten und Sessel zum Beispiel, die Holzwand, an die später ein Fahndungsplakat genagelt wird. Die Herstellung von Illusion, doziert Lars von Trier, ist im Kino inzwischen zu einfach geworden - nicht zuletzt dank der ganzen neuen Computertechnik. Das Perfekte macht keinen Spaß mehr, bewegt niemanden, also: Weg damit.

Eine filmische Selbstkasteiung, über die man die ersten dreißig Minuten noch staunt - dann aber hat man sie komplett vergessen.

Denn längst kündigt sich da ein Triumph des Geschichtenerzählens an, der wieder einmal beweist, dass die weltbesten Drehbücher derzeit, warum auch immer, in Dänemark geschrieben werden. Hinter seinem schrulligen Ton versteckt Lars von Trier eine Story von dramatischer Präzision und gnadenloser Ökonomie: Die Geschichte von Grace Margaret Mulligan (Nicole Kidman), die auf der Flucht ist vor ihrer Vergangenheit und in Dogville Unterschlupf findet.

Sie wird von Tom (Paul Bettany) aufgenommen und in die Dorfgemeinschaft eingeführt, wo er sie als Prüfung für die Moral der Bürger vorstellt: Ein schutzloses Wesen, auf Großherzigkeit angewiesen - und bereit, für diese Hilfe hart zu arbeiten. Zunächst herrscht pietistische Scham, sich derart offensichtlicher Vorteile zu bedienen. Wie dieselben Bürger dann aber beginnen, die gefügige, unschuldige Grace auszunutzen, zu erpressen, schließlich viehisch zu schänden und zu versklaven- - das hat eine so sorgsam entwickelte, zwingende Logik, dass es dem Betrachter manchmal den Atem raubt.

Man hofft ständig, dass wenigstens eine der Figuren aus dieser Logik ausbrechen, so etwas wie Herz zeigen möge - und je länger man vergeblich darauf wartet, desto unkontrollierter spürt man Hassgefühle in sich aufsteigen. Ein Held darf es niemals leichter haben, als die Ökonomie seiner Situation es nahelegt - dieser uralten Regel des Erzählens folgt Lars von Trier bis zum bitteren Ende.

Er legt sie wie einen Würgegriff um den Hals des Zuschauers. Der strenge Rahmen dieses Experiments dient letztlich nur dazu, im Bewusstsein des Betrachters zu verschwinden - um die Meisterschaft des Regisseurs umso klarer hervortreten zu lassen. Er ist selbst, wie der alberne junge Dichter, den er in den Mittelpunkt stellt, auf eine Parabel aus, im klassischsten Sinn, es geht um Moral.

Dass er sich über solcherlei dichterischen Größenwahn lustig macht, den Dichter von allen fleischlichen Lüsten ausschließt, heißt keinesfalls, dass er selbst von solchen Ambitionen lassen könnte.

Dass hier eine Frau bis zum Äußersten erniedrigt und gequält wird, wirft weitere Fragen auf. Nach Filmen wie "Breaking the Waves", wo Emily Watson am Ende zu einem tödlichen Opfergang schreiten musste, und "Dancer in the Dark", wo die blinde Björk am Strang starb, ist Lars von Trier auf Fragen nach seinem Sadismus natürlich gefasst.

Er gibt die Antwort, dass er letztlich weder Frauen noch Männer quälen will, sondern nur sich selbst - alle diese Figuren seien Teile von ihm, die aus rätselhaften Gründen am besten von Frauen verkörpert würden. Dies ist insofern glaubwürdig, als Grace, wunderbar zum Leben erweckt von Nicole Kidman, tatsächlich so wirkt, als sei sie mit großer Liebe geschaffen worden. Ginge es nur um Sadismus, könnte die Geschichte auch längst nicht solche Wucht entfalten.

Und schließlich: Auch die Entwicklung am Ende geht über die bisherigen Passionsspiele des Regisseurs hinaus. Die neue Heldin bleibt nämlich nicht in ihrer Opferrolle stecken - sie wird Rache nehmen in Hollywood-Manier: Eine Frau sieht rot. Mehr darf noch nicht verraten werden, aber der Schluss wirft neue bedrohliche Fragen auf.

In der traurigen Geschichte von Dogville, dem Marktflecken droben in den Felsigen Bergen, sieht man am Ende jedenfalls nur noch Moses, den Hund. Die gottesfürchtigen, rechtschaffenen Leute sind verschwunden, ebenso ihre bescheidenen, sauberen Häuser.

Niemand blickt mehr voller Wohlgefallen auf dieses Städtchen, nur noch Lars von Trier, der rächende Schreiber und Verseschmied - und er blickt aus der Perspektive Gottes. Würde man in ihn dringen, das Ziel seiner Anstrengungen zu erläutern, ein einziges Wort könnte ihm genügen: Illustration.

DOGVILLE, DK 2003 - Regie und Buch: Lars von Trier. Kamera: Anthony Dod Mantle. Ausstattung: Peter Grant. Mit: Nicole Kidman, Paul Bettany, Lauren Bacall, Ben Gazzara, John Hurt, Chloë Sevigny, Jeremy Davies, James Caan. Concorde, 177 Minuten.

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