Im Kino: "Elephant":Ich bin nicht sehr galant, Madame

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Gus Van Sant verfilmt ein Columbine-Massaker: sinnloses, willkürliches Sterben. Kunstbeflissene Kids töten gute Kinder. Ja, das ist ungeheuerlich. Aber Regisseur Gus Van Sant

TOBIAS KNIEBE

In dem Moment, wo das Grauen Gestalt annimmt, folgt die Kamera einem blonden Jungen. Sein Name ist John. Er schlurft über einen lichtdurchfluteten, spiegelglatten, langen Flur.

Seine weite Jeans hängt über den Turnschuhen. Er kommt aus dem Aufenthaltsraum, wo er kurz geweint hat. Wegen seines sanften, ewig betrunkenen, lebensuntüchtigen Vaters.

Dies ist der Beginn eines Massakers. Ein Moment in einem komplexen, sehr alltäglichen Strom von Geschichten, an einer sehr alltäglichen Highschool in Amerika. Die Jungs mit den Springerstiefeln schleppen automatische Waffen. Sie sehen aus wie Eric Harris und Dylan Klebold, als sie am 20. April 1999 die Columbine Highschool in Littleton, Colorado, betraten, um 13 Mitschüler und am Ende sich selbst umzubringen. ¸¸Elephant" verwendet Zeichen und Details dieses Ereignisses. Und doch ist der Film keine Nacherzählung, keine Aufbereitung, keine politische Analyse, keine Handlungsaufforderung wie Michael Moores ¸¸Bowling for Columbine". Er ist etwas vollkommen anderes. Gus Van Sant hat damit in Cannes die Goldene Palme und den Regiepreis gewonnen, was zusammen so gut wie nie vorkommt. Sein Werk ist vielleicht ein Geniestreich - aber ganz sicher ein Rätsel. Ein anderer Junge, Elias, begegnet ihm. Er kommt aus dem Fotolabor. Jetzt macht er ein Foto von John. Die Klingel schrillt. Ein Mädchen mit Locken und Brille und gebeugten Schultern fängt an zu rennen: Michelle. Sie war beim Sport, wo sie sich weigert, kurze Hosen zu tragen, obwohl die Lehrerin kurze Hosen verlangt. Jetzt hat sie Dienst in der Bibliothek. John schlurft weiter, gelangt ins Freie. Zwei Mitschüler kommen ihm entgegen, in Militärhosen, Springerstiefeln, Tarnjacken. Sie tragen Rucksäcke und schwere Taschen. Sie sagen: ¸¸Gleich wird die Scheiße losgehen."

Wo die Handlung beginnt und endet, verliert sich in der komplexen Struktur. Aber es geht doch vor allem um jene Viertelstunde, bevor der erste Schuss fällt: Ein kurzer Abschnitt Alltag, in dem alle Einordnungen durch Montage, alle Erklärungen außer Kraft gesetzt sind. Sogar der Fluss der Zeit: Wir sehen diese Minuten wieder und wieder, aus immer neuen Perspektiven.

Die langweiligen Momente aus dem Leben herauszuschneiden, das sei die Kunst des Kinos - so lautet eine alte Regel Hollywoods.

Was aber, scheint Gus Van Sant zu fragen, wenn wir vor einer Tragödie stehen, für die alle Erklärungen fehlen? Wo sollten die verlorenen Antworten zu finden sein - wenn nicht gerade in jenen Momenten, die wir sonst immer missachten?

Wie könnten sie aufgespürt werden, wenn nicht durch einen suchenden Blick, der fast schmerzhaft präzise ist, geduldig, abwartend, weder bewertend noch urteilend? Der immer wieder, in Zeitlupe sogar und mit Wiederholungstaste, einfach nur schaut?

¸¸Elephant" ist ein Stück Zeit im Director"s Cut: Jene Momente, die in Hollywood auf dem Boden des Schneideraums landen - hier sind sie alle wieder drin.

Der Augenblick, wo diese Methode offensichtlich wird, raubt einem in aller Stille den Atem. Sollte hier jemand eine Antwort gefunden haben? Plant dieser Regisseur, hinter seiner Aufgabe zu verschwinden? Die absurde Verführung, die jeder Katastrophenfilm für seine Macher bereithält, ist ja die, selbst Gott zu spielen.

Die eine Figur wird, weil sie dies oder das macht, sterben. Die andere darf, weil sie so oder so ist, überleben.

Die Killer handeln aus diesen und jenen Gründen. Schon hat uns der Regisseur ein komplettes politisches Weltbild verkauft. Er bestraft, verzeiht, vergibt Fleißbildchen und Survivalpunkte.

Was für ein Unsinn.

Was für ein Null-Erkenntnisgewinn. Hier sterben die Schüler einfach so. Flach. Undramatisch. Unhysterisch. Egal, was sie vorher getan haben. Sie fliehen, oder sie fliehen nicht. Sie betteln darum, verschont zu werden, oder sie betteln nicht. Am Ende sind sie tot, oder sie leben noch. So einfach ist das.

Gus Van Sant lässt Highschool-Kids aus Portland, Oregon, alle Szenen improvisieren. Er lässt sie die schrecklichen Ereignisse nachspielen und ihre ganzen echten Probleme in die Geschichte hineintragen.

Er folgt ihnen beim Leben und beim Sterben und beim Töten. Er beobachtet die nachdenklichen Gesichter der Killer. Er belauscht die Opfer und Täter, aber er gibt keine Hinweise darauf, was er wichtig findet und was nicht. Wie ein Magier, wie der Meister einer spiritistischen Sitzung scheint er darauf zu hoffen, dass sich dabei ein Geheimnis enthüllen möge - ein Geheimnis, das vielleicht hilft, das nächste Columbine zu verhindern.

Oder auch nicht. Viele Kritiker haben Van Sant für diesen Ansatz gefeiert, aber dabei unterstellen sie zwei Annahmen, die er am Ende gar nicht teilt. Erstens: Die Wahrheit über das Highschool-Massaker liegt tatsächlich so tief versteckt, dass nur ein sensationell präziser Blick sie aufspüren kann - während alle anderen Erklärungsversuche scheitern mussten.

Zweitens: Alle Dinge, so der große amerikanische Fortschrittsglaube, sind tatsächlich verbesserbar, verhinderbar, erklärbar. Das nächste Columbine, das nächste Erfurt ließe sich stoppen: Wenn wir nur aufhörten wegzuschauen, unseren Kindern endlich zuhören könnten, den Terror der Leistungsgesellschaft in den Griff bekämen.

Glaube ich wirklich daran? scheint sich Van Sant zu fragen, mitten im Film. Dann gibt er selbst eine ehrliche Antwort: Nein.

Vergessen wir mal die Realität, ruft er dann überraschend seinen Zuschauern zu. Meine Killer spielen Beethoven auf dem Klavier, und zwar richtig schön.

Sie bestellen ihre Waffen im Internet und schauen sich vor der Tat eine Hitler-Dokumentation an, und falls Ihnen das, liebe Zuschauer, absurd oder klischeehaft vorkommt, haben sie völlig Recht. Misstrauen Sie mir! Misstrauen Sie allen großen Erzählungen, die dem menschlichen Leid einen Sinn geben wollen. Und jetzt, aufgepasst, lasse ich meine Killer zusammen duschen, und dann dürfen sie sich küssen. Denken Sie, dass ich damit alle schwulen Jungs beleidigen und zu potenziellen Highschoolkillern erklären will? Natürlich nicht.

Sie dürfen nur nicht vergessen, das dies ein Film ist, der ein Spiel mit Ihnen spielt. Wie alle Filme. Tut mir leid, falls Sie je etwas anderes dachten.

Viele Kritiker haben Gus Van Sant, speziell in der ersten Verwirrung von Cannes, innerlich für diese Wendung verflucht. Aber auch das ist zu kurz gedacht. ¸¸Elephant" ist ein wahrhaft radikales Werk: Es zeigt den Tod und weigert sich, ihm einen Sinn zu geben. Aber nicht nur das: Es schließt sogar die Möglichkeit aus, dass sich Erkenntnis daraus destillieren ließe.

Und feiert am Ende dennoch das Leben: als einen Strom von Geschichten und Momenten, die ihren Wert ganz aus sich selbst gewinnen. Ein Footballspiel auf der Wiese vor der Schule, zu dem von Ferne Beethovens Mondscheinsonate erklingt; ein Mädchen, das für einen Moment einfach in den Himmel schaut; ein blonder Junge, der einen sehr langen Flur in seiner Highschool durchquert, von Anfang bis Ende - das sind träumerische, wunderbare, meditative Bilder.

Gus Van Sant, der an Rettung und Fortschritt nicht mehr glauben mag, tut am Ende etwas wahrhaft Mutiges: Er blickt dem großen, sinnlosen Walten des Zufalls ins Auge - und erkennt Schönheit darin.

ELEPHANT, USA 2003 - Regie, Buch, Schnitt: Gus Van Sant. Kamera: Harris Savides. Sounddesign: Leslie Shatz. Mit: Alex Frost, Eric Deulen, John Robinson, Elias McConnell, Jordan Taylor, Carrie Finklea, Nicole George, Brittany Mountain, Alicia Miles, Kristen Hicks, Timothy Bottoms. Kinowelt, 81 Minuten.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.83, Donnerstag, den 08. April 2004 , Seite 14 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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