Im Kino: "Auf der anderen Seite":Im Migrationskarussell

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In Fatih Akins Drama kreuzen sich auf wundervolle Weise die Wege von sechs Menschen auf ihrer Suche nach Heimat zwischen Deutschland und der Türkei.

Susan Vahabzadeh

Das Meer und die Träne sind durch die Einsamkeit verwandt ... Nejat, der schweigsame Germanist, der bestenfalls in der Sprache wirklich zu Hause ist, blickt aufs Meer hinaus zu Beginn von "Auf der anderen Seite", als habe er Heimweh nach dem Horizont. Die Geschichte, die Fatih Akin für seinen fünften Film ersonnen hat, ist der zweite Teil der Trilogie "Liebe, Tod und Teufel"; man muss aber, auch davon erzählt Nejats Reise, erst einmal leben, um sterben zu können.

In Fatih Akins neuem Film muss die junge Türkin Ayten (Nurgül Yesilcay) wegen ihrer politischen Einstellung aus ihrer Heimat nach Deutschland fliehen. (Foto: Foto: dpa)

"Auf der anderen Seite" ist schon ziemlich weit gekommen, bevor er überhaupt im Kino anläuft - kurz vor dem Start kam dann noch die Oscar-Hoffnung dazu: Der Film wurde eingereicht als deutscher Beitrag für die nächste Nominierungsrunde des besten nicht-englischsprachigen Films.

Ein Hin und Her zwischen Bremen und Istanbul, die Wege von sechs Menschen kreuzen sich, bevor sie auf die andere Seite gelangen. Nejat ist der Dreh- und Angelpunkt, das verbindende Element. Er ist Professor in Bremen, fährt am Wochenende zu seinem Vater, der in einer kleinen Bude haust. Weil dem alten Mann - seine Frau ist schon gestorben, als Nejat noch klein war - die Decke auf den Kopf fällt, mietet er von seiner Rente eine Nutte, die bei ihm einzieht, Yeter - "Yeters Tod" heißt der erste Teil des Films, sie wird nicht lange bei ihm sein.

Der Vater, angetrunken und aggressiv, schlägt sie, sie fällt mit dem Genick aufs Bettgestell. Der Vater landet im Knast, Nejat bricht mit ihm, zieht in die Türkei und sucht die Tochter, von der Yeter ihm erzählt hat - Ayten, die sich in Istanbul einer verbotenen linken Gruppe angeschlossen hat und inzwischen nach Deutschland geflohen ist, wo sie Unterschlupf gefunden hat bei der Studentin Lotte und ihrer Mutter Susanne, verkörpert von Hanna Schygulla.

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Auch dieser andere Dreierbund wird seine Geschichte von Tod und Verlust durchmachen. Tuncel Kurtiz, der Nejats Vater spielt, ist sozusagen die andere Seite zu Hanna Schygulla - ein Großer im türkischen Autorenfilm, Akin wollte, dass die beiden ihre ganze Kinogeschichte mit in seinen Film hineintragen.

Das ist alles hervorragend gespielt, ohne die großen Ausbrüche von Akins "Gegen die Wand". Baki Davrak, der Nejat spielt, ist geradezu der Gegenentwurf dazu - ein Meister des melancholischen Minimalismus. Man ist gebannt von Akins Figuren, wie sie zaghaft um einander herumschleichen.

Echte Nähe kommt fast nie zustande zwischen diesen Menschen, scheitert an unterschiedlichen Weltbildern. Zweimal nur ist nichts zu überwinden, bei den beiden hitzigen jungen Mädchen, Ayten und Lotte, die sich ineinander verknallen, und später, wenn Nejat und Susanne sich schließlich begegnen in Istanbul, zwei verwandte Seelen. Wie haben Sie mich erkannt, fragt Susanne. Sie sind, antwortet Nejat, der traurigste Mensch in diesem Raum.

"Auf der anderen Seite" ist ein trauriger, berührender Film, voll leiser Traurigkeit und von konzentrierter Ruhe. Und er wird immer wieder politisch, ohne ins platte Parabelhafte zu verfallen, er wird nur von der Zeit gestreift, die Umstände berühren das Leben der Figuren - wenn die Demonstrantinnen in Istanbul bei ihrer Verhaftung ihren Namen brüllen, zwei religiöse Sittenwächter Yeter bedrohen, Ayten sich mit Susanne über den EU-Beitritt der Türkei streitet.

Ayten ist dagegen, sie glaubt an einen dritten Weg, raus aus der Misere, ohne die eigene Identität aufzugeben, sich dem westlichen Kapitalismus zu unterwerfen. Akin lässt die beiden reden, ohne Partei zu ergreifen. Man versteht nur, was man von allen Seiten gesehen hat.

Bruchstücke einer Familie

Wie er diese Geschichten miteinander verwoben hat, das ist sehr schön anzusehen - wie die Wege sich immer wieder fast berühren, bis das Schicksal sie schließlich zueinander treibt. Lotte und Ayten fahren an jener Straßenbahn vorüber, in der Nejat und Yeter zurückfahren aus dem Krankenhaus, und man sieht eine Vorlesung zum zweiten Mal, die Nejat am Anfang des Films gehalten hat - Goethe und die Revolution, die immer so viel zerstört, wie sie schafft -, nur diesmal von der anderen Seite des Hörsaals aus, wo Ayten auf einer Bank schläft; das sind kleine, schön inszenierte Indizien, in denen man die Chronologie der Geschichte erkennt, die einem anderen Rhythmus folgt als dem, den die Zeit vorgibt.

Fatih Akin ist in Cannes, wo der Film in diesem Frühjahr im Wettbewerb lief, für das beste Drehbuch ausgezeichnet worden, was oft den Beigeschmack eines Trostpreises hat - es ist aber, in diesem Fall, wirklich keine willkürliche Entscheidung, das Buch zu prämieren.

Zwei Särge, einer, der von Hamburg nach Istanbul geflogen wird, und einer, der in die Gegenrichtung geschickt wird, das ist vielleicht ein wenig plakativ erzählt, aber alles ist Gegensatz, Gegenüberstellung, Seitenwechsel in dieser Geschichte. Und der Graben, den Nejat überwinden muss, um zu seinem Vater zu gelangen, ist tiefer und breiter als alle anderen.

Nejat ist ein stiller, introvertierter Mann, aber die Stille seinem Vater gegenüber hat eine eigene Qualität - als würde die Kommunikation nicht an einem Mangel an Sprache scheitern, sondern an ihrem Reichtum; bevor sich Nejat verstrickt in eine Unterhaltung, die dokumentiert, wie groß die Entfernung zu der Einfachheit seines Vaters geworden ist, schweigt er lieber.

Schon vor Yeters Tod haben sie sich eigentlich nichts zu erzählen, und einen Moment des befreienden Wiedererkennens wird es nicht geben. Ein bisschen so wie Akin selbst, der sagt, dass er sich die Türkei im Drehen erst langsam erarbeitet, und je besser er sie versteht, umso trauriger wird er . . .

"Die ganze Welt ist eine Fremde, die wir irgendwann verlassen werden", heißt es in dem Buch, das Nejat seinem Vater zu lesen gibt und das ungelesen bleibt, Selim Özdogans "Die Tochter des Schmieds".

Heimatlosigkeit, die Suche nach Verwurzelung wird Akins Thema bleiben - er hat inzwischen ein neues Projekt angekündigt, einen "Western", über europäische Immigranten in Amerika - er wolle, heißt es, Ellis Island nachbauen in Babelsberg. Er darf ja jetzt in großen Maßstäben träumen. Aber erst mal ist der Teufel dran, der letzte Teil der Trilogie, und vielleicht wird der etwas Göttliches haben, so wie sein Stück über den Tod am Ende ein wenig Hoffnung in sich trägt. Was übrig bleibt, wenn alle auf der anderen Seite angekommen sind, sind die Bruchstücke einer Familie und die Möglichkeit, daraus etwas Neues zusammenzusetzen. Zu Hause ist eben kein Ort, sondern nur jemand, zu dem man gehört, auf welche Weise auch immer.

AUF DER ANDEREN SEITE, D 2007 - Regie, Buch: Fatih Akin. Kamera: Rainer Klausmann. Schnitt: Andrew Bird. Musik: Shantel. Mit: Baki Davrak, Hanna Schygulla, Tuncel Kurtiz, Nurgül Yesilcay, Patrycia Ziolkowska, Nursel Köse. Pandora Film, 122 Minuten.

© SZ vom 26.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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