Im Kanon französischer Literatur:Körper im Krieg

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Nach de Sade, Baudelaire, Genet, Bataille ein neuer poète maudit: Pierre Guyotat, geboren 1940 im Departement Loire. (Foto: Philippe Lopez/AFP)

"Poète maudit" in der Tradition Genets und Batailles: Das Werk des preisgekrönten Schriftstellers Pierre Guyotat in kongenialen Übersetzungen.

Von Joseph Hanimann

Der dunkle Glanz des Tabubruchs liegt weiter über ihm, obwohl der Achtundsiebzigjährige heute Literaturpreise bekommt. Seit dem Marquis de Sade, Baudelaire, Rimbaud, Antonin Artaud, Georges Bataille, Jean Genet hat Frankreich es immer verstanden, aus seinen poètes maudits Klassiker zu machen.

Pierre Guyotat tauchte 1967 am französischen Literaturhorizont auf mit dem Buch "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten" in sieben Gesängen, das nach seinen Erfahrungen als Soldat in Algerien den Krieg zwischen den fiktiven Städten Ekbatana und Inamenas als Abfolge sexueller und krimineller Gewaltakte beschreibt. Sein folgendes Werk "Eden Eden Eden" lässt diesseits aller Moral in einem einzigen Satz tausend Varianten von Vergewaltigung und Prostitution abrollen und wurde nach dem Erscheinen 1970 sofort zensiert. Der Autor war damit als Skandalfigur etabliert und geadelt überdies durch den Beistand von Michel Leiris, Michel Foucault, Roland Barthes, Philippe Sollers.

Dabei war Provokation nie das Ziel dieses Mannes mit dem massig runden Kahlschädel, leicht abwesendem Blick und seltsam ruhiger Stimme. In diesem Herbst ist er mit einem Prix Fémina für sein Gesamtwerk und mit dem Prix Médicis für sein neues Buch "Idiotie" geehrt worden.

In Deutschland bekommt er nach vereinzelten Teilübersetzungen erst seit 2014 dank der wunderbar zielstrebigen Edition seiner Werke bei Diaphanes breitere Aufmerksamkeit. Als jüngste Titel sind gerade die beiden autobiografischen Schriften "Koma" und "In der Tiefe" erschienen.

"Schon wenn in meiner Kehle und meinem Mund das Wort 'Ich' sich formte und dann zur Aussprache kam, empfand ich nur Ekel", schreibt der Autor zu Beginn von "Koma", das eine mehrjährige tiefe Depression schildert. Sprache, Emotionen, philosophische oder politische Überlegungen sind bei Guyotat zunächst eine unmittelbar körperlich wahrgenommene Realität.

Damit verblüffte er bereits in "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten". Meldete die Kritik der französischen Intellektuellen gegen den Algerienkrieg sich hauptsächlich in Form von Zeitungsartikeln und Protestaufrufen, war sie für den 1960 in die Armee Eingezogenen und wegen Anstachelung zur Desertion Inhaftierten zunächst eine Frage von leidenden oder lustbebenden Körpern, offenen Wunden, Blut- und Spermaflüssen, geschundenem Fleisch. Recht und Unrecht im moralischen Sinn ist bei ihm sekundär, Unschuld eine Fiktion.

Kinder fangen Vögel und binden sie lebendig auf den Rücken einer Katze, liest man in "Koma", Lastwagen überfahren Hunde, Alte und Frauen, und auch die Rebellen kümmern sich nicht um die Ängste von Tier und Mensch. Sie verachten die, für deren Rechte sie kämpfen, "für sie ist es eine Chance, dass sie bekämpft werden und aufs Pferd steigen können".

Das "Grabmal", dieses 600-Seiten-Werk, stand quer zum trockenen Erzählstil der Epoche zwischen politischem Engagement, Spätwirkungen des Nouveau Roman und strukturalistischen Sprachspielen. Mit archaischer Wucht zeichnete Guyotat fern von allem Realismus Bilder des Erhabenen, des Grauens und der dahinter gleichgültig waltenden Natur. Nach einer sintflutartigen Katastrophe zieht sich gegen Ende die Überschwemmung zurück und hinterlässt eine Landschaft der Verwüstung, in der "die Quellbäche sich um die Ruinen winden und ihr neues Bett dort graben, wo einst das Kirchenschiff eines Tempels oder der Abwasserkanal eines Sklavengefängnisses lag".

Weniger emphatisch, eher klinisch detailliert setzt das Buch "Eden Eden Eden" in wohlkalkulierter Monotonie das Thema der Sexualität fort. In der Schrift "Littérature interdite" reflektierte der in jungen Jahren als Autodidakt aus der Provinz nach Paris gekommene Guyotat die Erfahrung der Zensur. Aufgehoben wurde sie erst 1981 nach der Wahl François Mitterrands.

Da steckte der Autor schon tief in der Depression, der das Buch "Koma" 2006 nachträglich mit Erinnerungsschnipseln aus Kindheit und Jugend auf den Grund gehen wollte. "Es geht mir nur gut, wenn ich nichts bin als das, was notwendig ist, der andere zu sein", heißt dort ein unüberhörbar an Rimbaud erinnernder Satz. Wiederholte Klinikaufenthalte, Herumirren im Campingcar, "um das eigene Ich zu vergessen", und Schreibversuche in der Depression machen die Substanz des Buchs aus.

Und wiederum entspringt alles der unmittelbaren Sinneserfahrung. Selbst das Erwachen aus dem Koma zeigt eine Erektion im Krankenbett an. "Es sind meine menschlichen Sinne und ihre Organisation im Rückenmark, die mich das Unbedingte sehen und fühlen lassen", heißt es. Doch statt eines in einem Schöpfergott personifizierten endgültigen Unbedingten hat Guyotat ein sich endlos weiterentwickelndes Unbedingtes vor Augen, in dem "Gott" sich immerfort selbst relativiert. Das Wort "Gott" kehrt beim katholischen Internatszögling Guyotat häufig wieder, meistens in Anführungszeichen, als wollte es einen uneingestandenen Pantheismus andeuten.

Manches zerblättert in den Aufzeichnungen von "Koma" in Beliebigkeit, über die man schnell hinwegliest. Zu disparat, zu privat, zu anekdotisch. An seinen besten Stellen ist das Buch aber das bewegende Zeugnis eines leidenden, im Schreiben sich seiner selbst entledigen wollenden Künstlersubjekts. Mit einem Ende von unerbittlicher Nüchternheit. Die Entlassung aus der Klinik, schreibt der Autor, sei der Eintritt in die sanfte Depression der Genesung, die nicht Erlösung bringt, sondern nur in eine entzauberte Welt ohne merkliche Formen und Farben führt. Mit glanzlosen Blicken, die einen nicht sehen, Stimmen, die stets anderen gelten, und einem Herz, "das einfach nur Blut pumpt, ein Blut, das nicht mehr wärmt". An dieser existenziellen Situation arbeitet sich Guyotats schriftstellerisches Unternehmen autobiografisch seit dreißig Jahren ab.

Wie aus der Gegenperspektive beleuchtet das im Original 2010 erschienene Buch "In der Tiefe" den erwachenden Schaffensdrang. Es ist zugleich eine Fortsetzung der Kindheitserinnerungen "Herkunft". Ein paar Sommerwochen 1955, im 15. Lebensjahr des Autors, bilden den zeitlichen Rahmen für die Verwirrungen eines Jugendlichen, der seine künstlerische Ader entdeckt. Libidinöses und transzendentales Verlangen reiben sich in einer zum Bersten gespannten Sinnlichkeit. Beim Anschwellen der Kräfte will die eine im Moment der Erfüllung hinaus in die Öffentlichkeit, während die andere sich schamhaft kaschiert.

Und wie kein anderes legt dieses Buch den künstlerischen Empfindungsunterschied zwischen Guyotat und Jean Genet offen, mit dem er manchmal verglichen wird. In einer Scheune beobachtet der fünfzehnjährige Guyotat den Liebesakt zwischen einer Frau und einem Mann. Sein Blick ist aber nicht gerahmt durch ein Schlüsselloch, hat nichts Voyeuristisches oder Geheimnistuerisches. Der Akt in der Scheune erscheint natürlich und öffentlich. Wirkt bei Genet jede Handlung im Bordell, in der Gefängniszelle oder an der Straßenecke inszeniert, zeremoniös, beinah andächtig, so liegt das Geschehen bei Goyotat offen zu Tage.

Sein Gott verlangt nicht nach Messgewand, Gesang und Weihrauchfass, sondern begnügt sich mit den Klamotten aus dem Campingcar. Nacktheit strebt bei ihm nicht zum Altar, sondern zum Abtritt - allerdings in einer berauschenden Sprache. Und die bisher erschienenen Übersetzungen halten darin durchaus mit. Kein Grund also, diesen französischen Gegenwartsautor weiter zu ignorieren.

Pierre G uyotat: Koma. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. Diaphanes Verlag, Zürich-Berlin, 2018. 192 Seiten, 24 Euro.

Pierre G uyotat: In der Tiefe. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. Diaphanes Verlag, Zürich-Berlin, 2018. 416 Seiten. 28 Euro.

© SZ vom 27.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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