Ideengeschichte:Wandel als Programm

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Der Politikwissenschaftler Jens Hacke zeigt in einer sorgfältigen ideengeschichtlichen Studie, was sich von den liberalen Denkern der Zwischenkriegszeit lernen lässt.

Von Dirk Lüddecke

Wer gutes Klima schätze, könne ja den Himmel wählen, wer jedoch nach interessanter Gesellschaft suche, fahre besser zur Hölle. Mark Twains Empfehlung scheint auch lange Zeit für die Geschichtsschreibung politischer Ideen der Weimarer Republik gegolten zu haben. Das zeitgenössische Arsenal wilden antidemokratischen Denkens zog deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich als die gar nicht so vereinzelten Verteidiger der liberalen Demokratie. Zumal mit dem Wissen um das schreckliche Ende schien es ein Leichtes zu sein, ihnen intellektuelle Schwäche und politische Wirkungslosigkeit nachzusagen im Vergleich zu dem Aufregenden und offenkundig Wirkungsvolleren, welches die radikalen Denker links wie rechts im politischen Spektrum zu bieten hatten. Sie nutzten die Modernitätskrisen dazu, sei es gedanklich, sei es gewaltsam, neue politische Räume zu erschließen und alternative Ordnungsmodelle zu propagieren.

Vor knapp sechzig Jahren habilitierte sich der spätere Münchner Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer mit einer Arbeit über das antidemokratische Denken der Weimarer Republik. Seit geraumer Zeit aber hat eine Umorientierung eingesetzt, die auch das demokratische Denken im "staatsrechtlichen Laboratorium Weimar" (Kathrin Groh) besser ins Licht rückt. Dieses historische Interesse entwickelte sich etwa zur gleichen Zeit, in der die dritte Welle der Demokratisierungen nach 1990 abebbte und die Überzeugung von der unangefochtenen Überlegenheit der Demokratie in Europa zu erodieren begann.

Intellektuelle Überlegenheit ergibt noch keine politische Strategie gegen Extremisten

Jens Hackes Buch, hervorgegangen aus seiner Habilitationsschrift an der Berliner Humboldt Universität, ist eine exzellente Zusammenschau jenes politischen Denkens der Weimarer Republik, das sich die Verteidigung der liberalen Demokratie zum Ziel gesetzt hat. Es ist eine späte Ergänzung zu Sontheimers Klassiker.

Als sorgfältige ideenhistorische Studie ist es mit dieser Thematik zugleich unverkennbar ein Buch für die Gegenwart, in der die liberale Demokratie erneut in die Defensive gerät. Und das ist gelinde ausgedrückt, blickt man auf politische Neuerscheinungen der jüngeren Zeit, die Titel tragen wie: "Was auf dem Spiel steht" (Philipp Blom), "Der Zerfall der Demokratie" (Yascha Mounk), "How Democracy Ends" (David Runciman) oder Wie Demokratien sterben (Steven Levitsky und Daniel Ziblatt).

Natürlich kommt auch Hacke nicht umhin die üblichen Verdächtigen der antidemokratischen und vor allem der verschärften antiparlamentarischen Polemik zu präsentieren. Denn die demokratischen Denker der Mitte trugen ihren intellektuellen Streit nicht nur untereinander aus, sondern auch mit den Vertretern extremer Positionen. Um vier Themenfelder hat Jens Hacke seine Darstellung geordnet. Da ist zunächst der prekäre Ausgangspunkt der Etablierung demokratischer Ordnung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und einem drückenden Frieden.

Schwer wog das mitgeschleppte Erbe etwa in ökonomischer und politischer Hinsicht; schwer aber auch das gesellschaftliche Echo der Gewalt, wie es Hacke in seiner Darstellung mit Bezug auf einen seiner wichtigsten Protagonisten ausführt, den prominenten Nationalökonomen und Intellektuellen Moritz Julius Bonn. Dieser hat 1925 eine Abhandlung zur Krisis der europäischen Demokratie vorgelegt. Die Gewalterfahrung des Krieges habe sozialpsychologische Folgeschäden in der Nachkriegsgesellschaft hinterlassen und zur Verrohung der politischen Kultur geführt.

Da ist zweitens die Begründung einer "wehrhaften" parlamentarischen Demokratie angesichts einer kaum ausgeprägten parlamentarischen Tradition. Der Historiker Peter Gay nannte die Weimarer Republik einmal "eine Idee auf der Suche nach ihrer Verwirklichung". Derart im Provisorischen sich haltend, waren Stabilität oder die Vorstellung einer "militant democracy", wie sie der Jurist Karl Loewenstein entwickelte, Ziele, die "noch gar nicht in Reichweite" zu sein schienen.

Vieles klingt heute, im Kontext der populistischen Herausforderung, sehr vertraut

Und so zeigte drittens auch die liberale Auseinandersetzung speziell mit dem Feind von rechts und der Ideologie des Faschismus ein notorisches Defizit. Mochten die Liberalen auch faschistische Ideenlosigkeit oder inhaltliche Inkohärenz diagnostizieren oder die Brutalität und "illegalen Methoden der Herrschaftsetablierung" anprangern - intellektuelle Überlegenheit allein, darauf verweist Hacke zu Recht, ergibt noch keine politische Strategie der wirksamen Eindämmung. Ein heutiges Echo und eine Fortsetzung findet die liberale Auseinandersetzung mit dem Faschismus im Buch der ehemaligen amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright "Faschismus. Eine Warnung".

Schließlich erörtert Hacke die liberale Reformdiskussion zur Einhegung des Kapitalismus. Insbesondere mit diesem vierten Aspekt werden auch längerfristige strukturelle und sozio-ökonomische Bedingungen benannt, die die Etablierung parlamentarisch-demokratischer Ordnungsformen nicht nur in Deutschland, sondern europaweit erschwert haben. Sie lassen sich allgemein unter dem Stichwort einer Modernitätskrise fassen, die psychopolitisch durch Symptome der Komplexitätsverweigerung auffällt. Im Kontext gegenwärtiger Krisendiskurse und der populistischen Herausforderung liberaler Demokratien klingt das recht vertraut.

Auch die liberale Selbstkritik wird verhandelt, und das ist gut so. Denn einerseits erwiesen sich liberale Autoren in ihrer Furcht vor der "Massendemokratie" selbst als gefährlich empfänglich für autoritäre Lösungen, anderseits liegt in solcher liberalen Selbstkritik ein hoffnungsgeleitetes Motiv: Es gibt etwas, das liberale Demokratien besser können als die Freunde des durchsetzungsstarken Autoritären oder die Protagonisten der illiberalen Demokratie. Obgleich es ihnen kurzfristig den Anschein von Schwäche gibt, begründet es die mittelfristige Stärke liberaler Demokratien: Selbstkritik üben und dadurch Anschlussfähigkeit einüben an neue politische, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Konstellationen.

Wechsel der Regierenden bedeutet keine Legitimitätskrise, Kompromissfähigkeit kein fehlendes Rückgrat, Neues erhält eine Chance und der Wandel wird zum politischen Programm. Das Moment der Selbstverbesserung und Reformbereitschaft, so Hacke, sei einer liberalen politischen Ordnung eingeschrieben. Das heißt indes nicht, dass jeder Problemstau auch rechtzeitig erkannt und aufgelöst wird. Hackes Hauptvorwurf gegen den mit viel Sympathie und wohlformuliert präsentierten Liberalismus der Zwischenkriegszeit lautet denn auch, sein Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie nicht ausreichend geklärt zu haben und seine ökonomische Krisendiagnose des Kapitalismus nicht durch gesellschaftstheoretische Analysen geschärft sowie um sozialpolitische Reformen ergänzt zu haben. Anders gesagt, war der Liberalismus zu zögerlich darin, sozialdemokratische Reflexionen und Programmatik "in einen liberalen Diskurs einzugemeinden".

Ideengeschichtlich sensibel sollen aus der Weimarer Erfahrung einerseits zwar keine unmittelbaren Parallelen zur Gegenwart gezogen und schon gar keine politischen Patentrezepte abgeleitet werden. Andererseits ist es doch auch zum Verzweifeln: Zwar wandeln sich die Herausforderungen liberaler Demokratien mit der Zeit erheblich. Waren es in Weimar traumatische Nachkriegserfahrungen und Gewaltbereitschaft, Weltwirtschaftskrise und eine traditionell zu wenig gefestigte parlamentarische Demokratie mit verfassungsrechtlichen Webfehlern, so sind es gegenwärtig Globalisierung und Migration, Europäisierung und Individualisierung sowie ein technisch-revolutionärer Strukturumbruch der Öffentlichkeit durch soziale Medien und Internetkonzerne.

Die antiliberalen Antworten scheinen in ihrer Erbärmlichkeit immer dieselben zu bleiben

Wie verschieden die Herausforderungen aber auch sein mögen, die antiliberalen Antworten scheinen, erbärmlich wie sie sind, immer dieselben zu bleiben: Homogenisierungsdruck und nationaler Eigensinn, gesellschaftliche Entdifferenzierung, Aushöhlung von Gewaltenteilung, Abbau individueller Bürgerrechte, ökonomische Abschottung und nicht zuletzt eine Neigung zu autoritären Herrschaftsformen, gespeist aus der Verachtung für Parteien und die mitunter schwierigen Prozeduren parlamentarischer Demokratie. Sie werden als Antworten auf gegenwärtige Herausforderungen auch nicht besser, als sie es in der Weimarer Republik waren.

Man könnte noch einmal an einen Satz Mark Twains denken: Geschichte wiederhole sich zwar nicht, aber sie reime sich. Und so gibt es über die Zeit hinweg doch mehr als ein fabula docet. Die Debatten der Zwischenkriegszeit, so Hacke, hätten etwa den demokratischen Staat als Akteur mit hoher sozialer Verantwortung und einem hoch eingeschätzten Gestaltungsspielraum hervortreten lassen. Liberalismus plus Sozialdemokratie also.

Allerdings scheint auch der hier gewiesene Ausweg in die Gefahr politischer Überforderung zu führen. Mehr zu versprechen, als Politik zu halten imstande ist, führt zu Enttäuschungen und in nicht wenigen Fällen zum antiparlamentarischen Ressentiment - auch das ist eine Erkenntnis, die Jens Hacke aus der Erfahrung mit dem liberalen demokratischen Denken Weimars gezogen hat: Der als sozialer Leistungsträger erhoffte Staat habe sich angesichts einer ausbleibenden wirtschaftlichen Konsolidierung zum Sündenbock gewandelt.

Jens Hacke hat ein kluges Buch zur politischen Ideengeschichte der liberalen Demokratie geschrieben und dadurch ein unbedingt lesenswertes zur antidemokratischen und illiberalen Bedrohung der Gegenwart.

Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 455 Seiten, 26 Euro.

Dirk Lüddecke lehrt Politische Theorie an der Universität der Bundeswehr in München.

© SZ vom 30.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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