Hybride Edition:Suche: Ankersteinbaukasten

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Die kritische Gesamtausgabe präsentiert Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" als gescheitertes Buch.

Von Lothar Müller

Seit 1926 hat der Schriftsteller Walter Benjamin auf das Buch hingearbeitet, auf dessen Niederschrift und Publikation er in den letzten Jahren der Weimarer Republik und noch im Exil viel Zeit, Kraft und Geld verwandte. Aber er fand für die "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" keinen Verlag, es blieb bei diversen Aufzeichnungen, Entwürfen und Fassungen, ein 1938 entstandenes Typoskript versteckte er nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen in der Pariser Nationalbibliothek. Erst im Herbst 1950 erschien im Suhrkamp-Verlag die erste Buchausgabe, zehn Jahre, nachdem sich der Autor im spanisch-französischen Grenzort Portbou das Leben genommen hatte.

Die "Berliner Kindheit" ist zum wohl bekanntesten Buch Walter Benjamins geworden. In den Umkreis der "Urgeschichte der Moderne" hat es sein erster Herausgeber Theodor W. Adorno gestellt, als subjektives Gegengewicht zu den Exzerpten und Stoffmassen, die Benjamin für seine geplante Arbeit über die Pariser Passagen zusammentrug. Nun ist die "Berliner Kindheit" im Rahmen der Kritischen Benjamin-Gesamtausgabe erschienen, gemeinsam mit dem zwischen April und Juli 1932 auf Ibiza entstandenen Konvolut "Berliner Chronik".

Ein Buch, einmal gedruckt, kann in der zweiten Auflage umgearbeitet, revidiert, erweitert werden. Aber in der Erstauflage hat es, wie vorläufig auch immer, eine feste Gestalt angenommen. Was ihm vorausliegt, die Entwürfe, Anläufe, Varianten, lässt es an der Grenze zwischen dem Gedruckten und Ungedruckten hinter sich. Auf diese Grenze bezieht sich die Wendung, ein Text erblicke das Licht der Öffentlichkeit. Ein Buch, das sie nicht überschreitet, ist ein gescheitertes Buch.

Berlin um 1900: „Komme ich heute zufällig durch die Straßen des Viertels, so betrete ich sie mit der gleichen Beklommenheit wie eine Bodenkammer, in die man seit Jahren nicht mehr gekommen ist. Und wirklich ist dies tote Viertel mit seinen hohen Mietshäusern heute der Abstellraum des Bürgertums aus dem Westen.“ (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Die Editionsphilologen haben immer schon daran gearbeitet, die Grenze zwischen dem Gedruckten und dem Ungedruckten durchlässig zu machen. In den historisch-kritischen Ausgaben bleibt kein Fehler unbemerkt, der beim Überqueren der Grenze entstanden ist, keine in den Manuskripten oder Typoskripten zu findende Variante von Schreibweisen oder Formulierungen undokumentiert.

Mit dem einen Auge blickt die Editionsphilologie in die Archive, in denen die Nachlässe aufbewahrt werden, mit dem anderen in die verschiedenen Druckfassungen. Und wenn sie die beiden abgeglichen hat, konsultiert sie die Bibliotheken und Enzyklopädien, um ihnen Sacherläuterungen und Auskünfte über Personen und Ereignisse abzugewinnen. Lange Zeit war in den kritischen Ausgaben für den Blick auf die Druckvarianten und das Ungedruckte der "Apparat" zuständig, als Teil des gedruckten Buches. Das Bündnis der Philologie mit den Technologien der Digitalisierung erlaubt es nun, dem klassischen "Apparat" und den Faksimiles im gedruckten Buch den Online-Zugriff auf ungedruckte Archivbestände an die Seite zu stellen.

Ein digitaler Zaubertrick macht die winzige Handschrift lesbar

Das gescheiterte Buch eines bedeutenden Autors ist ein ideales Terrain für die Erprobung der Möglichkeiten einer solchen "Hybridedition". Die Herausgeber der "Berliner Kindheit" in der Kritischen Gesamtausgabe, der 2015 während der Vorarbeiten verstorbene Burkhardt Lindner und Nadine Werner, haben sich, finanziell gestützt von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, für ein sehr opulentes Verfahren entschieden.

Sie drucken im Textband zwei Manuskript- und zwei Typoskriptfassungen vollständig ab, sodass man dem bucklichten Männlein wie dem Weihnachtsengel, dem Kaiserpanorama wie der Siegessäule wie auf einem Karussell immer wieder begegnet. Hinzu kommen Inhaltsverzeichnisse, separate Entwürfe und Textfassungen sowie die in der Frankfurter Zeitung, der Vossischen Zeitung und der Zeitschrift Mass und Wert erschienenen Teildrucke. Mit allem Nachdruck wird so ein gescheitertes Buch präsentiert, von dem es keine definitive Fassung gibt, nur Varianten voller Streichungen und Zusätze.

Der Kommentarband fügt eine minutiöse Entstehungs- und Publikationsgeschichte, Lesarten und Varianten, von denen nicht wenige hier erstmals gedruckt werden, ausgewählte Dokumente, vor allem Briefe hinzu und Synopsen zur Anordnung der einzelnen Stücke in den verschiedenen Fassungen. Der entscheidende Schritt über die Vielzahl der bisherigen Ausgaben hinaus, einschließlich der Edition der "Berliner Kindheit" in den "Gesammelten Schriften" (1972 - 1989), ist die digitale Publikation der Manuskripte zur "Berliner Chronik" wie zur "Berliner Kindheit" auf der Website www.walter-benjamin.online.

Wer sich auf diese Website begibt, entfernt sich mehr und mehr von der linearen Lektüre eines fortlaufenden Textes. Wer will, kann unter der Rubrik "Edition" die Texte in der Anordnung lesen, die auch die gedruckte Ausgabe bietet. Vor allem aber gerät er unter der Rubrik "Archive" in die Welt einer nicht leicht zu entziffernden, auf kleinstem Raum operierenden Handschrift, die aber durch einen digitalen Zaubertrick einen lesbaren Schatten wirft. Denn die Transkription der nach ihrem Archivzusammenhang geordneten, mit Signaturen versehenen Manuskripte in Druckbuchstaben ist hier wie ein Schleier über die Manuskripte gelegt.

Neben Orten und Figuren der Stadt spielen Requisiten und Kinderspiele eine große Rolle

Man kann die einzelnen Blätter vergrößern und verkleinern, die zeitliche Abfolge ihrer Entstehung rekonstruieren, die einzelnen Stücke in alphabetischer Ordnung anklicken und ihre Verwandlungen verfolgen. Warum es kleine Prosastücke sind, hat man schon auf den ersten Seiten der "Berliner Chronik" erfahren. Benjamin, der mit Franz Hessel einzelne Bände der "Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust übersetzt hatte, legte sich einen "Verzicht auf jedes Spielen mit verwandten Möglichkeiten" auf. Am Beginn der "Berliner Kindheit" stand die Entscheidung gegen die Großform des Romans, für eine Folge kleiner Prosastücke.

Hybrideditionen nehmen den Werken ihre Abgeschlossenheit nicht zuletzt dadurch, dass sie zugleich Suchmaschinen sind. Vielleicht ist ihnen nur gewachsen, wer der suggestiven Verführungskraft widersteht, mit der sie dazu einladen, Details im Labyrinth der Texte zu verfolgen, und immer wieder auf die Ebene der Gesamtlektüre eines Textes zurückkehrt. Müßig aber ist die Orientierung auf das Detail nicht. Wer einmal bemerkt hat, eine welch große Rolle in der "Berliner Kindheit" neben der Erinnerung an Orte und Figuren der Stadt die Kinderspiele und ihre Requisiten spielen, der kann in der Online-Edition durch Suchbefehle wie "Ankersteinbaukasten" auf Schlüsselmotive Benjamins stoßen.

Eines freilich fällt gerade wegen der Opulenz dieser Edition auf. Die einzigen Drucke der "Berliner Kindheit" sind Zeitungs- und Zeitschriftendrucke, die meisten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erschienen, nicht wenige unter Pseudonym. Was hätte näher gelegen, als diese Stücke, statt sie lediglich abzudrucken und online zur Verfügung zu stellen, an ihrem Erscheinungsort aufzusuchen, auf der Zeitungsseite, umgeben vom Zeitklima, Texten der Zeit? Aber hier privilegiert die Online-Edition noch das gescheiterte Buch, statt auch ins Zeitungsarchiv zu gehen. Schade.

Walter Benjamin: Berliner Chronik / Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Hrsg. von Burkhardt Lindner und Nadine Werner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 652 und 466 Seiten, zus. 89 Euro.

© SZ vom 17.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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