Historisches Vergessen:Auf in die Lennonstraße

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Löschen, verbergen, schweigen, leugnen. Aleida Assmann studiert die Formen des Vergessens, gerade in historischer Perspektive. Wenn in der Ukraine die Leninstraße überpinselt wird zur Lennonstraße.

Von Knud von Harbou

Die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann bleibt ihrem Lebensthema treu. Bald, so scheint es, hat sie alle Variationen zwischen Erinnerung und Vergessen durchleuchtet. Bislang fehlte noch eine "Ethnografie des Vergessens", also eine Beschreibung möglicher Formen des Vergessens. Sie spiegelt diese verschiedenen kulturgeschichtlichen Erscheinungen in ihren jeweiligen Rahmenbezügen einer psychologischen, sozialen und historisch-politischen Provenienz. Wie komplex dieses Thema ist, zeigt die dialektische Verschränkung mit dem Antipoden "Erinnerung". Entsprechend den von ihr eingangs vorgeschlagenen sieben Formen des Vergessens fügt sie in einem zweiten Teil sieben aktuelle Fallstudien hinzu, die ihre Thesen verifizieren sollen. Damit hält sie das derzeitige Schwungrad der Forschung, besonders in den Disziplinen Psychologie und Neurowissenschaft und in diffuser Ausprägung, wie sie meint, als "Beute der Kulturwissenschaft" am Laufen.

Besondere Aktualität erfährt ihr Thema jedoch durch Zeithistoriker, die vor der Frage stehen, wie man das Wissen um die NS-Geschichte bewahren und einer nächsten Generation vermitteln kann. Auch Assmann selbst unterstrich die Bedeutung des Problems für Historiker in vielen ihrer Monografien, abgesehen von den überragenden Werken Harald Weinrichs über die Kunst und Kritik des Vergessens oder Johannes Frieds über historische Memorik, der darin überdies ein gesondertes Kapitel über die neurokulturellen Grundlagen der Geschichtswissenschaft hinzufügte. Viel verdanken wir auch Harald Welzers Theorie der Erinnerung.

Die einen gedenken am 11.11. des Waffenstillstands 1918, die anderen eröffnen den Karneval

In ihren neuen Texten, die einem Zyklus Frankfurter Vorlesungen über die historischen Geisteswissenschaften entstammen, geht Aleida Assmann eher handbuchartig auf die unterschiedlichen Bewusstseinslagen von Erinnern und Vergessen ein. Die Dynamik beider Begriffe als Ausdruck eines kulturellen Gedächtnisses wird schlagwortartig dargestellt, so wenn sie die Technik des Vergessens exemplifiziert mit verschiedensten Vorgängen wie Löschen, Verbergen, Schweigen, Leugnen. Die sich dabei aufdrängenden Erkenntnisse der Psychoanalyse dazu sind offenbar ohne Relevanz, streift sie doch nur das "therapeutische Vergessen", unterlegt von dem kargen Hinweis, dass es das Ziel der Freudschen Psychoanalyse sei, die belastende Vergangenheit noch einmal ins Bewusstsein zu heben, um sie danach umso besser hinter sich lassen zu können. Doch gerade die Psychoanalyse hat sich wie sonst keine Disziplin mit der Psychodynamik des "Vergessens" in Form von Erinnerungsresten, der Verdrängung, Abspaltung beschäftigt. In den Therapieberichten wird man unmittelbar Zeuge des unendlich komplizierten Weges, anhand aufgedeckter Widerstände Zugang zu Erinnerungsspuren und temporärem Vergessen zu finden. So können wir wenigstens in Ansätzen Rückschlüsse von individuellem Verhalten auf kollektive Mentalitäten ziehen - und Auswege aus Erinnerungsblockaden und inszeniertem Vergessen (siehe die Bewältigung des Dritten Reichs) finden.

Anders Aleida Assmann, die hier kognitiv Vergessen materiell, biologisch und technisch begreift und "als Normalfall in Kultur und Gesellschaft" ansieht, der Erinnerung hingegen nur nachrangige Bedeutung zuerkennt ("Negation des Vergessens"). So bleibt es im Grunde bei Auflistungen der Formen des Vergessens, die zur Abrundung des Themas gewiss nützlich sind. Aber weiterführend?

Vielleicht lag es am Duktus der zugrunde liegenden Frankfurter Vorträge, dass Assmann nicht ihre deskriptive Ethnografie des Vergessens in die sieben vorgestellten Fallgeschichten integrierte. Vieles wird dadurch wiederholt, wenn auch in anderen Zusammenhängen. So breitet sie anschaulich den Aspekt des Vergessens/Erinnerns im Umgang mit Denkmälern aus. Konkret kann sie hier ein negierendes Vergessen, das heißt die Zerstörung von Denkmälern, und affirmatives wie historisches Erinnern, sprich die Neuaufstellung oder Umdeutung, belegen. So, wenn in der Ukraine eine Lenin-Straße einfach in eine (John) Lennon-Straße überschrieben wird oder sie auf die Ambiguität im Umgang mit dem Waffenstillstand von 1918 verweist, dessen die Alliierten jährlich am 11.11. mit einer Schweigeminute gedenken, während die Deutschen zum gleichen Zeitpunkt den Karneval eröffnen.

Assmanns viele kulturgeschichtliche Beispiele lesen sich jedenfalls unter dem schillernden Aspekt Vergessen / Erinnern mit großem Gewinn. Hier finden sich viele Denkanstöße zu Komplexen, die noch kaum aufgearbeitet worden sind, so die strukturellen Zusammenhänge zwischen Genozid und Mnemozid oder der Stellenwert des Vergessens im Internet. "Ein zu weites Feld", umschrieb Fontane in anderem Zusammenhang im Roman "Effi Briest" die Erinnerungen des alten Vaters, als genauer Chronist vergaß er indessen nichts.

© SZ vom 31.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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