Historische Reisereportage:Land ohne Örtchen

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Angela Steidele reist auf den Spuren der exzentrischen Britin Anne Lister und ihrer Lebensgefährtin durch Russland und den Kaukasus.

Von Tobias Lehmkuhl

Wer heutzutage Zwanzig ist und etwas auf sich hält, weiß, welcher Technoclub in Tbilissi gerade angesagt ist. Wer vierzig Jahre zählt, der schwärmt von den Weinen Georgiens, und wer die Sechzig erreicht hat, der wandert auf den Spuren der Antike über den Kaukasus, liest Puschkin und Mandelstam und fotografiert die malerische Landschaft kurz und klein.

Vor zweihundert Jahren dagegen war Georgien sowenig wie die übrigen Länder des Kaukasus eine erschwingliche, wenige Flugstunden entfernte All-Age-Reisedestination. Wer sich im Jahr 1840 hierhin auf den Weg machte, der setzte vorher besser sein Testament auf. Die Anreise war lang und beschwerlich, und die Qualität der Wege mindestens so lebensgefährlich wie die Entschlossenheit der Wegelagerer. In der Regel hieß es zudem, aber das war das kleinste Problem: Kein Örtchen, nirgends.

War man dann auch noch weiblichen Geschlechts, ließe sich vermuten, verdoppelten sich die Schwierigkeiten. Allerdings, so schreibt Angela Steidele in "Zeitreisen. Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg" erscheine das Reisen von Frauen im 19. Jahrhundert nur vor dem Zerrbild der sittsamen, aufs Haus beschränkten Frau, so spektakulär. Tatsächlich hatten es Frauen in der Fremde mitunter auch leichter als Männer, waren sie doch etwa nicht dem Verdacht ausgesetzt, zu spionieren oder ähnliche Untaten im Schilde zu führen.

Angela Steideles historische Heldinnen Anne Lister und Ann Walker verfügten zudem über den Vorteil einer gut gefüllten Reisekasse. Als sie 1840 durch Russland reisten, waren sie nicht auf Postkutschen angewiesen, die es im Kaukasus ohnehin nicht gab, sondern nutzten das eigene Gefährt. Außerdem konnten sie sich sprachkundige Begleiter leisten, die sie umsorgten und im Zweifelsfall auch beschützen sollten. Als Frauen von Stand, standen ihnen die Türen der bessern Gesellschaft von Moskau, Nischni Nowgorod, Baku oder Tbilissi ohnehin weit offen.

Durch den Zwischenstopp im Jahr 1840 erscheint das 13. Jahrhundert nicht weit weg

Dennoch erforderte ihre Unternehmung eine gewissen Tollkühnheit. Wenige Westeuropäer hatten zu dieser Zeit den Kaukasus bereist. Gleichwohl gab es eine Art Reiseführer, dem das Paar folgte, die "Voyage autour du Caucase" von Frédéric Dubois, in drei Bänden zwischen 1839 und 1843 erschienen. Auch ein Deutscher trieb sich zu dieser Zeit in der Gegend herum, der Botaniker Karl Koch. Er veröffentlichte seinen Bericht 1842. Angela Steidele nun schneidet Kochs und Dubois Reise mit den Tagebuchnotizen Anne Listers und ihren eigenen Beobachtungen, die sie auf Listers Spuren in Russland und dem Kaukasus gemacht hat, kurz.

Wie Lister mit ihrer Partnerin Ann, war auch Steidele mit ihrer Frau unterwegs. Korrekt müsste der Untertitel ihres Buches gleichwohl "Vier Frauen, zwei Männer, zwei Jahrhunderte und ein Weg" lauten, denn die Rolle Dubois' und Kochs in dieser Zeitreise ist ebenso groß wie die Anne Listers und Ann Walkers.

"Zeitreise" dagegen ist ein sehr treffender Titel, denn nicht nur verbindet Steideles Bericht das 19. und das 21. Jahrhundert miteinander, häufig dient ihr Listers Reise auch als eine Art Sprungbrett in weiter entfernte Zeiten, in die Peters des Großen etwa und sogar in die des mittelalterlichen Andrej Rubljow. Durch den erzählerischen Zwischenstopp im Jahr 1840 erscheint einem das 13. Jahrhundert plötzlich gar nicht mehr so weit entfernt.

Überhaupt ist Steideles Buch sehr kurzweilig, was einerseits an ihrer exzentrischen Heldin liegt (über die Steidele im vergangenen Jahr eine Biografie veröffentlich hat), wie auch an dem Witz ihrer Begleiterin Susette, die angesichts eines Waldes in der Nähe des georgischen Gori ausruft: "Das ist hier ja wie im Rhododendron-Park in Bremen. Nur in echt!"

Die weniger pittoresken Orte des Kaukasus, jene Regionen, die für westliche Reisende unzugänglich oder zumindest nicht ganz ungefährlich sind - Dagestan, Tschetschenien - lässt Steidele aus. Es geht ihr nicht um Abenteuer, sondern um eine beschauliche, literarische Spurensuche.

Am Ende waren es auch weder die Wege oder die Wegelagerer, die dazu führten, dass Ann Walker ihre Geliebte Anne Lister, die sie nur widerwillig auf ihrer Reise begleitet hatte, sieben Monate lang im Sarg nach Hause führen musste. Es war das "heiße Fieber", an dem Lister überraschend verstarb. Vor diesem immerhin ist der heutige Reisende, ist die heutige Reisende gefeit.

Angela Steidele: Zeitreisen. Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg. Matthes und Seitz, Berlin 2018. 272 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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