Historiker:Wer sind eigentlich diese Deutschen?

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Seine dreibändige Geschichte des Dritten Reiches ist seit seinem Erscheinen ein akademisches Standardwerk. Ein Treffen mit dem britischen Historiker Richard J. Evans, der an diesem Freitag siebzig Jahre alt wird.

Von Alexander Menden

Der Schauspieler John Sessions, der die Rolle des "Richard Evans" spielte, hätte vor den Dreharbeiten ein bisschen abnehmen können, sagt Richard Evans. Aber insgesamt sei er zufrieden mit "Denial". Mick Jacksons Film über den Verleumdungsprozess, den der englische Holocaustleugner David Irving in den Neunzigerjahren gegen die amerikanische Geschichtsprofessorin Deborah Lipstadt anstrengte, bekam im vergangenen April wohlwollende Kritiken. Evans hat aber einen etwas anderen Blick auf "Denial" als die meisten: Er war damals als wichtigster Zeuge der Verteidigung geladen. Das Kreuzverhör zwischen David Irving und ihm, in dem die intensive Abneigung zwischen beiden Männern, die sich vorher nicht einmal persönlich kannten, sofort spürbar wird, ist einer der dramatischen Höhepunkte der Geschichte.

"Sie haben die aufregenden Szenen herausgegriffen", sagt Evans, der sich zum Gespräch in der Londoner Royal Academy of Arts eingefunden hat. "Aber das Ganze fing den Geist des Prozesses sehr gut ein."

Es lag für die Verteidigung Lipstadts nahe, Richard Evans als Sachverständigen zu laden. Irving fühlte sich von Lipstadt verleumdet, weil sie ihm Tatsachenverzerrung bei seiner Verharmlosung des Holocausts vorgeworfen hatte. Als einer der bedeutendsten britischen Experten für die Geschichte des Nationalsozialismus wies Evans ihm genau diese Verzerrung nach und trug dadurch entscheidend dazu bei, dass Irvings Klage abgewiesen wurde.

Evans war spätestens seit seiner Intervention im deutschen Historikerstreit Ende der Achtzigerjahre eine Autorität auf diesem Gebiet; besonders Ernst Noltes revisionistische Thesen hatte er damals wohlbegründet als eine Art von Holocaustleugnung verurteilt. Evans' dreibändiges Opus Magnum, "Das Dritte Reich", erschien erst nach dem Prozess: Auf den 2500 Seiten dieser zwischen 2003 und 2008 publizierten Trilogie schlägt er den Bogen von der deutschen Einigung im Jahre 1871 über die Machtergreifung der Nazis bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie wurde umgehend zum Standardwerk.

"Mittlerweile sagen alle 'Europa', und meinen damit 'das andere'".

In "Das Dritte Reich" kulminierte eine Faszination für neuere deutsche Geschichte, die bei Evans, mittlerweile emeritierter Regius Professor of History an der Universität Cambridge, schon in seiner Kindheit begonnen hatte, als er als Kind walisischer Eltern am Ostrand Londons aufwuchs. "Wenn mich meine Eltern mit die Stadt nahmen, sah ich die Lücken, die deutsche Bomben gerissen hatten", erinnert er sich. "Und ich begann mich zu fragen: Wer sind eigentlich diese Deutschen, die das getan haben? Meine Mutter hatte den Blitzkrieg erlebt, mein Vater war mit der Armee in Nordafrika gewesen - es war einfach ein wichtiger Teil meines Lebens."

Als er in den Sechzigerjahren begann, in Oxford Geschichte zu studieren, hatte der deutsche Historiker Fritz Fischer gerade eine Debatte über die Gründe für den Ersten Weltkrieg eröffnet. "Fischer war ein Held für mich", sagt Evans. "Ich traf ihn in Oxford und studierte dann bei ihm in Hamburg. Damals gab es nach einer langen Phase der Verdrängung erstmals den Versuch, deutsche Erinnerungen zu sammeln und einzuordnen." Wie viele gleichaltrige Geschichtsstudenten fand Evans Fischers These aufregend, der Weltkrieg und auch der Nationalsozialismus seien eine Folge der gesellschaftlichen Entwicklung im deutschen Kaiserreiches gewesen - zumal 1968 gerade eine Wiederbelebung neonazistischer Ideen in ganz Europa stattfand.

"Die Sorge aufgrund dieser Entwicklung verband sich mit der Sorge vor dem amerikanischen Imperialismus, der sich im Vietnamkrieg manifestierte", erklärt Evans. "All das verstärkte mein Interesse an einer Untersuchung der Gründe für den Aufstieg der Nazis." Als Graduiertenstudent lernte Evans Deutsch, um sich mit den Primärquellen deutscher Kriegspropaganda auseinandersetzen zu können. Leider erlebe man heute immer öfter, dass britische Historiker die Sprache des Landes, über das sie forschen, gar nicht beherrschen - das sei ein "wirkliches Problem".

Evans selbst studierte eingehend die Hamburger Archive, publizierte unter anderem über die feministische Bewegung in Deutschland und über die "völlig in Vergessenheit geratene" Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung: "Deutschland war ja bis zum Wirtschaftswunder, das die berühmte nivellierte Mittelstandsgesellschaft hervorbrachte, eine zutiefst gespaltene Klassengesellschaft" sagt er. Deshalb finde er die Generalisierung deprimierend, die immer wieder gerade von britischen Historikern vorgenommen werde, wo einfach von "den Deutschen" die Rede sei: "Es gibt keine Differenzierung, die auf diese klassenbedingte Spaltung, auf den Dissens mit den Nazis eingeht." Er bezog auch Stellung gegen Daniel Goldhagen, der die nach Evans' Einschätzung unzulässig vereinfachende Behauptung aufstellte, "eliminatorischer" Antisemitismus sei der deutschen Kultur eingeschrieben.

Richard Evans einen streitbaren Historiker zu nennen, würde in die Irre führen, denn er sucht nicht die Kontroverse um ihrer selbst willen. "Intolerant gegenüber intellektueller Lethargie", wie der britische Journalist Daniel Johnson ihn einmal beschrieb, geht er ihr aber auch nicht aus dem Weg, wenn er mit den Schlussfolgerungen von Kollegen nicht übereinstimmt. So forderte er die Position der "Bielefelder Schule" heraus, der zufolge die alten, manipulativen deutschen Eliten zum Aufstieg der Nazis geführt hätten, indem sie eine Demokratisierung Deutschlands verhinderten. "Das deutsche Bürgertum war dafür viel entscheidender", sagt Evans. Hans-Ulrich Wehler, einer der Gründer der Bielefelder Schule, wurde dennoch ein guter Freund.

Mit großer Skepsis sieht Richard Evans die derzeitige Debatte über exklusive nationale Identitäten: "Kürzlich sah ich am Flughafen Gatwick das Werbeplakat einer Fluggesellschaft mit dem Slogan 'Europa ist näher, als Sie denken!' und ich dachte: Nein, Europa ist näher, als ihr denkt! Wir sind hier nämlich in Europa! Ich selbst habe kein Problem damit, mich als Waliser, Engländer und als Europäer zu fühlen." Der Brexit sei auch das Ergebnis eines sprachlichen Wandels: "Früher sprach man vom 'Kontinent', was aus der Sicht einer Insel ja stimmt. Mittlerweile sagen alle 'Europa', und meinen damit 'das andere'".

Der Geschichtsunterricht in den Schulen könne dazu beitragen, solche vereinfachenden Dichotomien aufzubrechen: "Er soll jungen Menschen helfen, in einer sehr komplexen Welt selbständig und kritisch denkende Individuen zu werden", sagt Evans. "Letztlich ist Geschichte ein Fach wie Physik oder Chemie - es hat seine eigenen Regeln, und die müssen rigoros angewandt werden. Damit man Politikern wie Boris Johnson oder Jeremy Corbyn sagen kann: Es ist falsch, wie ihr die Geschichte darstellt." An diesem Freitag wird Sir Richard John Evans 70 Jahre alt. Er wird eine kritische Stimme bleiben.

© SZ vom 29.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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