Heinrich Zille zum 150. Geburtstag:Was juxt du?

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Sein Humor hatte in den besten Momenten eine Wucht, die man in der heutigen Humorlandschaft vermisst: Der 150. Geburtstag des Berliner Zeichners Heinrich Zille gibt Anlass, den "Raffael der Hinterhöfe" neu zu entdecken.

Gottfried Knapp

Als Heinrich Zille - er wurde am 10. Januar 1858 in Radeburg geboren - im Jahr 1924 auf Vorschlag von Max Liebermann in Berlin in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen und darüberhinaus noch mit der Verleihung des Professorentitels geehrt wurde, also die höchsten künstlerischen Weihen empfing, die Berlin zu vergeben hatte, schien seine Erhebung in den Olymp der bildenden Künste glorios vollzogen zu sein. Doch oben über den Wolken, in den geruchsbereinigten Zonen, die von den Kunsthistorikern betreut werden, ist der Mann, der ein Vierteljahrhundert lang die Vorstellungen der Welt vom proletarischen Berlin, von seiner Subkultur und seinem Mutterwitz geprägt hatte, nie wirklich angekommen.

Heinrich Zilles "Das missverstandene Konzertplakat" (1924) (Foto: Foto: ddp)

Er wurde dort oben auch nicht richtig vermisst, denn genau genommen passte er, der höchst populäre satirische Zeichner und Berliner Mundarthumorist, in keines der Separées, die man dort für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert irgendwann geöffnet hatte. Weder dem Naturalismus, dem Spätimpressionismus oder dem Symbolismus mit ihren diversen esoterischen Varianten, noch dem Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit oder dem Sozialen Realismus war Zille sinnvoll zuzuordnen. In den Kanon der bildenden Künste war Zille nur mit Gewalt zu integrieren.

Liebermanns hochherziger Versuch, den Freund aus den Niederungen der Hinterhöfe und Kellerkneipen hochzuziehen, ihn mit sich gen Himmel zu nehmen und in der Geschichte der Malerei zu placieren, hat also am Ende wenig bewirkt. Doch darüber kann nur traurig sein, wer die populärdramaturgischen Besonderheiten der Zilleschen Zeichnungen, die geradezu filmischen Qualitäten dieser Arbeiten, die in vielfältige Bewegungen ausmünden, aber sich der bildhaft strengen Form verweigern, als Eigenwert nicht anerkennen will.

Befreit man Zille von der lastenden Bürde der abendländischen Kunstgeschichte, dann kann man ihn als einen der Mitschöpfer jenes Personals feiern, das später im Kino seine dauerhafte Heimat finden sollte. Er steht damit in einer Tradition des Erzählens in Bildern, die indirekt von E.T.A. Hoffmanns bizarren Großstadtfiguren ausgeht, über die bürgerlichen Anverwandlungen des Hoffmann-Personals durch den Maler und Illustrator Theodor Hosemann und über dessen biedermeierlich sachliche Berliner Sittenschilderungen zu Zille weiterführt und schließlich in quasidokumentarischen Spielfilmen wie "Menschen am Sonntag" (1930) ihre moderne Neuformulierung findet.

Physisch und psychisches Elend

Bis Zille zu diesem - seinem - Bild-Genre fand und dabei sich selbst als Zeichner entdeckte, mussten freilich Jahrzehnte vergehen, Jahrzehnte des Schauens, Sammelns und Lernens. Die nachhaltigste Lehre, die Zille als Künstler erhalten hat, war aber nicht der abendliche Unterricht bei Theodor Hosemann in der "Königlichen Kunstschule" und auch nicht die Ausbildung zum Lithographen und anerkannten Spezialisten für die neuesten photomechanischen Drucktechniken, die ihm zu einer Daueranstellung in der renommierten "Photographischen Gesellschaft Berlin" verhalf - die prägende Erfahrung seines Lebens war das physische und psychische Elend, das er als Kind eines vor Schuldeneintreibern nach Berlin geflüchteten Vaters in der schäbigen Ein-Zimmer-Kellerwohnung ohne Betten nahe dem Schlesischen Bahnhof und in den Straßen und Hinterhöfen des Berliner Ostens erlebt hat.

Alle kreativen Regungen, die wir von Zille kennen, sind dominiert von diesem Urerlebnis. Zum "Raffael der Hinterhöfe" oder (wie seine kunstideologischen Gegner, etwa der Kaiser, gerne formulierten) zum "Rinnstein-Künstler" und "Abort-Zeichner" ist er erst später geworden.

Die verstreuten Zeichnungen und Skizzen, die Zille um 1880 während seines Militärdienstes angefertigt hat, waren mit ihren etwas unbeholfenen Karikierungen klischeehafter Haltungen noch stark von den Bildmustern der illustrierten Presse, vor allem von den Spaßigkeiten der Zeitschrift Gartenlaube, abhängig. In seiner Zeit als Angestellter der Photographischen Gesellschaft hat er sich dann, dem Rat Hosemanns, ins Freie zu gehen, folgend, als Zeichner und Lithograph mit einigem Erfolg der offenen Landschaft zugewandt.

Doch schon Anfang der neunziger Jahre tauchen immer häufiger vom Elend niedergedrückte Frauen, in deren Röcken sich Kinder verkrampft haben, Reisigsammlerinnen, deren abgezehrte Körper sich unter der aufgetürmten Last biegen, in den atmosphärisch duftigen Schwarz-Weiß-Landschaften auf. In diesen realistisch überzeugend formulierten Bildern - er greift dabei auf eigene Photographien zurück - ist er dem anklägerischen Furor, den Käthe Kollwitz etwa gleichzeitig in ihren leidenschaftlichen Sozialreportagen zu entwickeln vermochte sehr nahe. Doch es musste wohl eine persönliche Lebenskrise dazukommen, dass er sich schließlich ganz dem Zeichnen und Erzählen verschrieb.

Proletarische Erinnerungen

Als ihn die Photographische Gesellschaft nach dreißig Jahren Zusammenarbeit 1907 auf die Straße setzte, nahm Zille die rund 500 Photographien und Negative, die er mit geliehenen Kameras angefertigt hatte, als Anschauungsmaterial für seine graphische Produktion mit und begann konsequent an seinen proletarischen Erinnerungen und an seinen Erfahrungen aus den Zonen, die er sein "Milljöh" nannte, zu arbeiten.

Dass die stillen photographischen Momentaufnahmen, die er in den vergessenen Winkeln und den verdrängten Abseiten der Weltstadt Berlin gemacht hatte, für die Nachwelt einmal eine vitale Präsenz bekommen könnten, hätte Zille sicher nicht für möglich gehalten. Wir erleben in diesen Bildern, die alles Spektakuläre meiden, Außenseiter subtil ins Bild holen, Gesichter unmanipuliert reden lassen und auch mal magisch leere Räume zeigen, das 19. Jahrhundert, das uns durch schwülstige Inszenierungen verstellt und verleidet ist, auf eine bewegend neue Weise.

Die satirischen und anekdotischen Zeichnungen, die dann im 20. Jahrhundert entstanden sind, uns zeitlich also eigentlich näher stehen, haben in den letzten Jahren nicht ähnlich an Reiz hinzugewonnen. Zu oft hat sich Zille durch seine rasch erworbene zeichnerische und verbale Routine zu Zugeständnissen verführen lassen, um dem Jux-Bedürfnis seiner Witzblattleser zu entsprechen.

Doch in den besten, den frechsten, aggressivsten oder lakonisch trockensten seiner kommentierten Blätter - und es gibt viele davon - lässt er Figuren, die man zu kennen glaubt, obwohl sie einer anderen Zeit angehören, mit einem Minimum an Farben und mit zählbar wenigen kurvierenden Strichen zu so vitaler, praller Leiblichkeit erstehen, dass man sich fragt, in welchen Details er die Sinnlichkeit des Ganzen versteckt hat. Und wenn es ihm dann auch noch gelingt, die Berliner Schnauze ähnlich drastisch zum Sprechen zu bringen, dann glaubt man zu sehen, wie Zille an dem großen Drehbuch über das historische Berlin, das er der Welt hinterlassen hat, schmunzelnd weiterschreibt.

Ja wenn in einer der ach so beliebten neueren deutschen Filmkomödien auch nur einmal ein Satz von der überrumpelnden Direktheit und Kraft der besten Zilleschen Bildkommentare zu hören wäre, ließe man sich auch den dürftigen Rest gerne gefallen.

© SZ vom 10.1.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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