Harvey Keitel zum 70.:Meister der Implosion

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Bis heute weiß keiner, warum Francis Ford Coppola ihn während der Dreharbeiten zu "Apocalypse now!" feuerte. Harvey Keitel hat dem amerikanischen Kino trotzdem sein Gesicht geliehen.

Fritz Göttler

Die Keitel-Urszene. Ein schäbiges Hotelzimmer in Saigon, 1968. Ein junger US Captain liegt auf dem Bett, im Alkoholdunst. Erinnerungen suchen ihn heim, er versucht das Zimmer für sich zu erobern, landet einen Schlag gegen sein anderes Ich im Spiegel. "Jedes Mal, wenn ich mich umschaute, rückten die Wände ein Stückchen näher."

Harvey Keitel als Mr. White, hier mit Tim Roth (Mr. Orange). (Foto: Foto: Filmverleih)

Der Captain Willard in Coppolas "Apocalypse Now", das war eine Rolle, die ein ganzes Leben ändern muss. Harvey Keitel sollte sie spielen, aber nach wenigen Tagen wurde er von Coppola gefeuert, bis heute weiß keiner so recht warum. Was bis dahin gedreht war, wurde mit Martin Sheen noch einmal gemacht, Eleanor Coppola erzählt darüber in ihrem Tagebuch, wie er die Hotelszene durchzog, furios, außer sich. Über Harvey Keitel verliert sie kein einziges Wort mehr.

Wie Martin Sheen war Keitel ein Method Man, von den Techniken des Actors Studio geprägt. Zuvor hatte er drei Jahre im Marine Corps absolviert, dann als Schuhverkäufer und als Gerichtsstenograph gearbeitet. 1967 traf er dann einen Filmstudenten, der ihn in seinem Film "Who's That Knocking At My Door?" spielen ließ. Es war Martin Scorsese, mit dem er vier weitere Filmen drehte. Der erste, "Mean Streets", 1973, eine Art New Yorker "Außer Atem", hat dem jungen amerikanischen Kino der siebziger Jahre sein Gesicht gegeben. Und dieses Gesicht war Harvey Keitel. Er war Charlie, der Junge aus kleinbürgerlichem Hause in Little Italy, der mit einer Gruppe von Nichtsnutzen herumhing und das Leben erfuhr in seiner Gewalt und seiner Zärtlichkeit. Wenn er den Finger über eine offene Flamme hält, um die erlösende Kraft des Schmerzes zu erleben, ist das nicht die Urszene des New Yorker Kinos?

Scorsese wollte Keitel dann für die Hauptrolle ihres dritten gemeinsamen Films, "Taxi Driver", aber die Produzenten bestanden auf Robert De Niro. Für Harvey Keitel blieb nur die mysteriöse Rolle des langmähnigen Zuhälters, der Jodie Foster in seiner Gewalt hat und der De Niros erstes Opfer wird. Zwei Jahre später, nach seinem Rauswurf bei "Apocalypse Now", war Harvey Keitel wirklich erst mal im Abseits. Der extrovertierte, vor nichts zurückschreckende Robert De Niro wurde das Zugpferd. Harvey Keitel zog sich zurück, als Meister der Implosion. Das hat seine Spuren hinterlassen bei einem Mann, dem die Verlässlichkeit oberstes Gesetz ist: Semper fidelis, das Motto der Marines.

Rauschgift- und sexsüchtig

Den Zug in Coppolas Herz der Finsternis hatte Harvey Keitel 1979 verpasst. Erst ein Jahre später ist er dort angekommen, in "The Bad Lieutenant" von Abel Ferrara. Er spielt einen New Yorker Cop, rauschgift- und sexsüchtig, der dem Vergewaltiger einer Nonne nachstellt, immer bereit, seine Position zu missbrauchen. Die Szene, wie er zwei Mädels benutzt - "Habt ihr jemals einen Schwanz gelutscht?" -, um sich auf offener Straße bis zum Masturbieren aufzugeilen, ist legendär. In der Körperlichkeit und Erlösungssucht von "Bad Lieutenant" kulminiert jener dunkle Strang, der auch Filme wie James Tobacks "Fingers" oder Barry Levinsons "Bugsy" oder Jane Campions "Das Piano" so beklemmend macht. Mehr als jeder Schauspiellehrer hat ihn sein Nachtkampf-Ausbilder bei den Marines für diese kühnen Erkundungsgängen vor der Kamera vorbereitet: "Ich werde euch alles über die Dunkelheit beibringen, damit ihr lernt, euch nicht vor ihr zu fürchten."

Auch Harvey Keitel hat von seinen Erfahrungen vieles weitergegeben. Er hat Quentin Tarantinos "Reservoir Dogs" auf den Weg gebracht und mitproduzierte, hat in vielen kleinen Produktionen gespielt, oft in Europa, von Tavernier bis Angelopoulos, dreimal mit Paul Auster gearbeitet. Heute zeigt er sich durchaus mal in Großproduktionen wie der "Vermächtnis"-Serie mit Nicolas Cage. "Meine letzte Nacht beim Dreh von 'Apocalypse Now' ging ich in die Bar im Hotel", hat er seinem Freund Julian Schnabel erzählt, "und die Sängerin sang 'My Way'. Ich saß einfach da, vor mir meinen Drink, und fühlte mich ermutigt durch diesen Song . . ."

© SZ vom 13.5.2009/bey - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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