Günter Grass wird 80:Der Mann mit der goldenen Gans

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Am Beginn stand nicht die Politik, sondern die Kunst: Zum achtzigsten Geburtstag des Schriftstellers Günter Grass.

Thomas Steinfeld

Deutschland hat nur wenige Staatsdichter hervorgebracht. Gustav Freytag war einer, der ebenso preußische wie nationalliberale Dichter der "Bilder aus der deutschen Vergangenheit". Ernst von Wildenbruch war einer, der Verfasser von wilhelminischen Historiendramen und Bismarck-Gedichten. Aber wer noch wäre in dieser Reihe zu nennen? Die wichtigsten deutschen Dichter sind Dichter der Unstaatlichkeit gewesen, und sie sind es immer noch.

Wo wäre der Staat gewesen, für den Johann Wolfgang Goethe geschrieben hätte? Selbst Thomas Mann schrieb nie für Deutschland, sondern für ein anderes, besseres Gemeinwesen, für eine Nation ohne Staat. Und doch: Einen Schriftsteller gibt es, in dem nicht nur die Deutschen meinen, ihrer selbst habhaft werden zu können, sondern der auch im Ausland als politisches, zeithistorisches Symbol wahrgenommen wird - für die Herkunft Deutschlands aus Krieg und Vernichtung, für die Verwandlung in eine Demokratie, für den Widerstand gegen das amerikanische Imperium.

Es ist Günter Grass, und zwar nicht, obwohl er es an Affirmation des deutschen Staates fehlen lässt, sondern eben deswegen. In Günter Grass ist der Widerspruch staatstragend geworden.

Es führt aber nicht weit, immer wieder zu erzählen, wie aus dem Schriftsteller eine öffentliche Figur wurde, die ihre literarische Bedeutung in den Schatten stellt. Aber es hat etwas zu bedeuten, dass Günter Grass, je älter er wird, desto häufiger darauf zu sprechen kommt, er möchte nicht mehr als öffentliche Figur wahrgenommen werden, sondern als Dichter.

An diesem Dienstag feiert Günter Grass seinen achtzigsten Geburtstag. Vielleicht hat er ein Geschenk frei. Und wenn dies so wäre - man wünschte ihm, dieser große, unendlich komplizierte Wunsch möchte in Erfüllung gehen, und sei es gegen seinen Willen. Dabei steckt in diesem Wunsch eine tiefe Tragik.

Denn einst war Günter Grass tatsächlich Dichter. Die "Blechtrommel" (1959), dieser in Paris, in der unmittelbaren Konfrontation mit der ästhetischen Moderne entstandene erste Roman, ruht zwar sicher auf den persönlichen Erlebnissen ihres Autors. Aber welche Anstrengung er unternahm, um das Private verschwinden zu lassen, es in reine Fiktion zu verwandeln! Wie ernst, für wie existentiell bedeutend er die Kunst nahm! Und die "Hundejahre" (1963) erst, ein Buch mit drei Erzählebenen, vielen Erzählern und Hitlers Hund mittendrin: ein überaus seriöser, prinzipiell angelegter und mit allen Mitteln der Kunst vorangetriebener Versuch, sich in die literarische Avantgarde hineinzuschreiben!

1959 begann die Gegenwart

Die Kritik, aber auch das Publikum konnten mit so viel ästhetischem Ehrgeiz wenig anfangen. Selbst wenn sie Literatur lasen, so wollten sie doch nur Geschichte verstehen, waren begeistert - und Günter Grass ließ sich vom Erfolg tragen, vergaß, was er eigentlich wollte, und dann bediente er die öffentliche Figur mit allem, was ihm zur Verfügung stand.

Dieser Günter Grass gleicht einem Hans im Glück, der einen Goldklumpen, den Lohn für sieben Jahre Arbeit, eintauscht für immer gewöhnlicher werdende Waren - nur, dass er dabei nicht glücklich bleibt wie die Märchenfigur, sondern sich vom energetisch leuchtenden, bartlosen jungen Mann verwandelt in eine von allen Seiten verschattete Ikone der Bedenklichkeit und des Misstrauens.

Tatsächlich beginnt 1959, in dem Jahr, in dem die "Blechtrommel" erschien, die heutige Zeit, die Spanne, die man deutsche Gegenwart nennen könne. Das erste Jahrzehnt ging, unübersehbar geprägt von den bewährten Kräften, dahin als die Zeit des Wiederaufbaus. Thomas Mann starb im August 1955, Bertolt Brecht ein Jahr später. Erst danach erschien das Buch, das einer Gesellschaft, die den Nachkrieg hinter sich gelassen und sich neu formiert hatte, ein episches Gesicht gab - und darauf, dass dies rückwirkend geschah, dass der Untergang des alten Deutschland miterzählt wurde, darauf gründet sich die einzigartige Bedeutung dieses Romans.

Wobei, und auch das gehört zu dieser Bedeutung, dem Verstehen dieser Vergangenheit enge Grenzen gezogen sind: nicht nur, weil der Roman in Oskar Mazerath einen subversiven Charakter zum Helden hat, sondern auch, weil das Genre, der Schelmenroman, seine Figuren gegen alle Erfahrung resistent macht. Anders gesagt: In der Mitte eines zeitgeschichtlichen Romans, der weithin als Fanal gesellschaftskritischen, modernen Erzählens gilt, findet eine Restauration verlorener Unschuld statt, soll das verlorene Paradies des alten, epischen Erzählens wiedergefunden werden.

Darauf kommt es an: auf den Versuch, nicht nur aus den Trümmern Deutschlands, sondern auch aus denen der Dichtkunst eine noch halbwegs intakte Literatur hervorzuholen. Immer wieder kehrt bei Günter Grass dieses Motiv wieder, dieser Wunsch nach einem epischen Paradies. "Katz und Maus", die Novelle aus dem Jahr 1961, ist vermutlich das Buch, in dem sich dieser Wunsch am ehesten erfüllt.

Aber immer wieder ist da der unermessliche Erfolg, den Günter Grass als nationaler Repräsentant und Präzeptor genießt - und immer wieder ist da die Bereitschaft, die Gans gegen den Schleifstein des öffentlichen Auftritts zu tauschen. Und so liegen die Kunst und die öffentliche Figur in einem ewigen Streit miteinander, den die Kunst stets verliert.

Obwohl sie es nicht darf: Günter Grass - das ist auch die unbändige Lust, das Verlangen, der zuweilen vermessene und ganz in der Ästhetik der fünfziger Jahre beheimatete Anspruch, große Kunst hervorzubringen, eine Kunst, die als Antwort auf die Geschichte Bestand hat. Und die Neigung, die Günter Grass zu großen Schlachtengemälden hegt - sei es in Gestalt panoramatischer Bücher wie dem Roman "Das weite Feld" (1995) oder dem Erzählband "Mein Jahrhundert" (1999), sei es in Gestalt großer Debatten wie zuletzt der um seine SS-Mitgliedschaft (die eine Debatte um seine Autobiographie und das Kunstwollen hätte werden sollen) - verdankt sich auch dem Bedürfnis, es möchte mit der großen Kunst endlich einmal gelingen.

Ernst von Wildenbruch, der Staatsdichter des wilhelminischen Deutschland, reimte: "Ein Rezensent, das ist der Mann, der alles weiß und gar nichts kann!" Von Günter Grass ist bekannt, dass er von der literarischen Kritik unserer Zeit nicht höher denkt. Im Gegenteil: zahlreich sind die Äußerungen, in denen er als Sachwalter des "Primären", also der Kunst selber, über das "Sekundäre" herfällt, also den parasitären Kulturjournalismus und dessen Vertreter. Wobei er zugleich die mediale Öffentlichkeit sucht wie kein zweiter deutschsprachiger Dichter. Immerzu scheint sich Günter Grass gegen die Dämonen wehren zu müssen, die er selbst herbeirief.

Als Günter Grass im Oktober 1999 der Nobelpreis zugesprochen bekam, wirkte das in Deutschland wie eine Wiedergutmachung. Bundeskanzler Schröder redete von den "Schmähungen", die Grass hatte erdulden müssen. Peter Rühmkorf sprach von der Augurenschar der Rezensenten, Hans Magnus Enzensberger hoffte, der Preis werde die "Verbitterung, die sich nach Reaktionen auf seine letzten Werke eingestellt habe, mildern". Durch den Preis, so ging die Hoffnung, würde das Querulatorische in Günter Grass endgültig im Repräsentativen aufgehen und befriedet werden. Die Hoffnung trog. Denn Frieden verspricht ihm nur die Kunst.

© SZ vom 16.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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