Großformat:Kopfsprung in die Kunst

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Die Zeichnerin Catherine Meurisse hat viele Jahre für "Charlie Hebdo" gearbeitet. Mit den "Paper Pools" von David Hockney bewältigt sie die Erinnerungen an den Anschlag, dem sie zufällig entging.

Catherine Meurisse, geboren 1980, hat als Zeichnerin zehn Jahre lang für die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo gearbeitet. Am Tag des Attentats hat sie verschlafen, sie kam gerade am Verlagsgebäude in Paris an, als die Brüder Kouachi die Konferenz stürmten. In ihrer beeindruckenden Graphic Novel "La Légèreté" ("Leichtigkeit", Carlsen-Verlag) hat sie die Monate danach beschrieben, das Trauma, die Lähmung, und wie der Durst nach künstlerischer Schönheit sie langsam wieder ins Leben geführt hat. Sie wohnt immer noch in Paris, hat aber bei Charlie Hebdo gekündigt. Zuletzt erschien von ihr "Scenes de la vie hormonale" (Dargaud). Jetzt schickte sie uns diese Zeichnungen und dazu folgenden Brief:

"Am Anfang steht ein Buch, das ich diesen Winter zufällig in New York gefunden habe: ,Paper Pools' von David Hockney. Draußen war es kalt; Buchhandlungen waren immer schon gute Zufluchtsorte. Es ist nicht die kalifornische Hitze, die mich an Hockneys Bildern so anzieht, es ist das grenzenlose Blau seiner Swimmingpools, dieser streng geometrischen Formen, die zugleich wolkenlose Horizonte sind. Manchmal kann das Blättern in einem Buch die Lungen öffnen.

David Hockney hat 1978 eine Serie von 29 ,Paper Pools' realisiert. Er hat draußen gemalt, im Stehen. Ich beneide ihn um die Freiheit seines Strichs. Sitzend an meinem kleinen Zeichentisch, mit krummem Rücken, versuche ich mich an Skizzen: David Hockney, vertieft in seine Arbeit, in verschiedenen Positionen. Ihn dabei zu zeichnen, wie er malt, ist schon ein Schritt in Richtung Freiheit - ich glaube ganz naiv und fest an künstlerische Kontamination. Im Malen erteile ich mir selbst eine Art Vollmacht und so stehe ich plötzlich in Kalifornien, in Stiefeln, so wie er, ich mache weite und sichere Gesten, ich bin wie er über große Papiere gebeugt, die, wenn man sie zusammenfügt, die Swimmingpools ergeben werden. Ich male ganz nah am Wasser, ganz nah am Licht, das es widerspiegelt, das mich so fasziniert. Und ich muss an das denken, was Delacroix und die Impressionisten über Spiegelungen und Reflexionen gesagt haben. So erlebe ich meinen kleinen, intimen Moment am Pool ...

Seit ich dem Anschlag entkommen bin, gibt es in mir eine tiefe Sehnsucht, mich durch die Kunst zu befreien, die zusammenfällt mit der Sehnsucht zu leben. Am 7. Januar 2015 haben wir einen Kopfsprung in die totale Finsternis gemacht. Danach hat es lange gedauert, bis wir wieder an die Oberfläche emporgetaucht sind. Lange habe ich darunter gelitten, Überlebende zu sein, heute bin ich glücklich darüber, am Leben zu sein. Aber es hat sich etwas verändert, tief in mir, für immer. Dieses Etwas verlangt dauernd danach, künstlerisch ausgedrückt zu werden, eben weil es mich seither und in Zukunft ausmacht. Aber wie? Es gibt tausend Möglichkeiten, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich bin überfordert, ungeduldig, vielleicht bin ich auch einfach nicht dazu in der Lage. Also öffne ich, solange ich warte, die Bücher, in denen die Bilder von anderen zu sehen sind.

Nach dem Attentat auf Charlie Hebdo habe ich gelernt, unter Wasser zu atmen. Heute zeichne ich den Pool eines Malers, den ich liebe, und sitze selbst am Rand dieses Beckens. Ich weiß nicht, in welcher Farbe ich aus seinem Wasser auftauchen werde und es ist mir auch ganz egal. Ich weiß nur, dass der Sprung köstlich sein wird."

Deutsch von Alex Rühle

© SZ vom 27.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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