Großformat:Fünfzig Seiten für sechs Zeilen

Lesezeit: 2 min

2006 schrieb Jan Wagner ein sehr kurzes Gedicht mit dem Titel "teebeutel". Für uns hat der Schriftsteller einen Text darüber verfasst, wie es entstanden ist.

Von Jan Wagner

Selbstverständlich ist es möglich, ein Gedicht nicht handschriftlich, sondern auf der Tastatur eines Computers zu schreiben. Abgesehen davon aber, dass man bei einer solchen Vorgehensweise auf die unerhört befriedigenden Spuren und Rückstände des Handwerklichen verzichten muss, auf die Tintenflecken und Kugelschreiberschlieren an den Fingern also, die einen am Abend daran erinnern, dass man wirklich und wahrhaftig gearbeitet hat, auch wenn letztlich nicht mehr als zwei Zeilen dabei herausgekommen sind; abgesehen auch davon, dass das Schriftbild eines Computers eine feste Struktur vorgaukelt, eine Geformtheit suggeriert und vorwegnimmt, die das Gedicht in seinem jetzigen Zustand womöglich noch gar nicht rechtfertigt, dass das Schreiben von Hand, all das Streichen, Schmieren, Neuansetzen, Umkringeln, Übermalen und Einfügen das Sprachmaterial formbar hält und dem ganzen Prozess etwas Unabgeschlossenes, jene unerlässliche Offenheit gibt; abgesehen von alldem also ist ein Nutzer von Notizbuch und Stift in der glücklichen Lage, das Entstehen eines Gedichts auch später noch Schritt für Schritt, Strich um Strich nachvollziehen zu können.

Alle paar Jahre geschieht es ja, dass Regalbestände umsortiert und Kisten in andere Zimmer geschafft werden - und man dabei auf alte Kladden stößt, zu stöbern beginnt. Und nicht nur wird man, während man so vor- und zurückblättert, daran erinnert, wie qualvoll lange es dauern kann, bis ein Gedicht tatsächlich zu einer ersten, halbwegs annehmbaren Variante gefunden hat, wie viel Geduld und Zweifel und Selbstkritik nötig sind - nein, es lässt sich auch erneut erkennen, was man allzu oft vergisst oder zu verdrängen sucht, dass nämlich all die Sackgassen, die Abwege und die Irrwege durchaus notwendig waren, dass sie alle begangen und ausgeleuchtet werden mussten, um an ein Ziel zu gelangen, von dessen Beschaffenheit man noch gar nichts ahnte.

Erstaunlich, denkt man beim Blättern, was für Albernheiten dabei waren - aber auch was für im Grunde interessante Wendungen und Bilder, die dennoch fallen gelassen werden mussten, nachdem man sie eine Weile hin- und hergewendet und betrachtet, mit ihnen gespielt hatte. Beginnend mit einem ersten Impuls, einem ersten die Neugier weckenden Eindruck, sagen wir: einem gebrauchten Teebeutel am Rand einer Küchenspüle, kann es dann leicht fünfzig Doppelseiten oder noch weit mehr in Anspruch nehmen, bevor die fertige, nunmehr gewohnte Gestalt sichtbar wird - und Falter- oder Lotmetaphern, Düfte von Hagebutte bis Pfefferminze beiseitegelegt sind.

Und noch erstaunlicher ist es, dass all das Wortmaterial, das aufgetürmt und umgeschichtet wurde, dass all diese handschriftlich verfassten Seiten also am Ende wirklich nicht mehr ergeben haben sollten als sechs kurze Zeilen, zwei winzige Haikus, gerade einmal vierunddreißig Silben. Aber, denkt man, ist weniger nicht manchmal mehr? Steckt nicht oft genug in der Lücke die Fülle?

Übrigens kommt, hat man eine derart unleserliche Handschrift wie ich, noch ein interessanter Aspekt hinzu, versucht man die eigenen, längst vergessenen Aufzeichnungen zu dechiffrieren; die eigene Schludrigkeit hält zusätzliche Freuden bereit: Denn der Versuch, ungenutzte Zeilen und nie weiterverfolgte Entwürfe zu entziffern, diesen verschmierten, hastig hingekritzelten Notaten einen Sinn abzugewinnen, zwingt zur Interpretation, und durch das Verlesen und das Fehllesen kommen ungeahnte neue Bedeutungen hinzu, erhält die Kladde einen mal absurden, mal aufregenden Mehrwert. Heißt dies dort Sänger oder Säuger? Hat man es mit Ampfersuppe zu tun oder mit einer Imkerskappe? Kuriosität oder Karstadt? Nassau oder Nase? Wandersmann oder Wundersaum? Handelt es sich um Bettnässer oder doch um Betelnüsse? Anbeginn oder Aubergine? Ja, ahnt man, ein "Lob der Sauklaue" wäre erst noch zu schreiben.

Foto: Renate von Mangoldt (Foto: N/A)

Das Doppel-Haiku "teebeutel" erschien erstmals 2007 in dem Band "Achtzehn Pasteten". Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hanser Berlin Verlags.

© SZ vom 02.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: