Großer Pianist:Singen mit Beethoven

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Er gilt bis heute als einer der großen Poeten am Flügel: Wilhelm Kempff. Besonders fühlte sich dieser Musiker einem ausgesprochen gesanglichen Klavierspiel verpflichtet. (Foto: Scherl)

Wilhelm Kempffs frühe Aufnahmen der späten Beethoven-Sonaten zeigen bereits seinen ausgesprochen gesanglichen Klavierstil.

Von Wolfgang Schreiber

Der Mann galt einmal als Inbegriff des "deutschen Musikers". Die Strahlkraft des Pianisten und auch Komponisten Wilhelm Kempff (1895-1991) war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allenfalls vergleichbar mit der des Dirigenten und auch Komponisten Wilhelm Furtwängler. Beide rückten Ludwig van Beethovens philosophische, radikal subjektive Ausdruckskunst ins Zentrum ihres Weltbilds. Zweimal hat Kempff alle 32 Klaviersonaten Beethovens auf Schallplatten aufgenommen, noch viel öfters hat er sie weltweit im Konzertsaal gespielt. Wie Kempff als junger Pianist, in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts, die zerklüfteten späten Beethoven-Sonaten bewältigte, präsentiert jetzt eine zweiteilige CD-Edition, erschienen beim Label Appian Publications & Recordings.

Das "Großartigste an poetischem Klavierspiel", so lautet das Urteil Alfred Brendels, der sich an Kempffs Darstellung der romantischen "Legenden" von Franz Liszt erinnerte. Kempff selbst aber konnte sagen: "Ich bin kein Romantiker", lieber war er Klassiker. Das hieß: Sein Musizieren zielte nicht auf die romantischen Verführungen der harmonisch-melodischen Tonalchemie, sein Blick richtete sich auf die Gedanken- und Formenlogik der Musik, gerade bei Beethoven. Virtuosität oder das Klangraffinement, wie es spektakulär Vladimir Horowitz zelebrierte, blieben für ihn notwendige, aber doch Randerscheinungen.

Wilhelm Kempffs musikalisches Weltbild ruhte auf festem Fundament - auf Johann Sebastian Bach. Das hatte ihm der Vater gelegt, der in Potsdam, wo Kempff die ersten Jahrzehnte seines Lebens zubrachte, protestantischer Kantor war. Mit neun gab Wilhelm, das "Wunderkind", sein erstes Konzert. Es folgte die Klavierausbildung, zu der auch das Studium der Komposition gehörte. Obwohl in der Weimarer Republik einer der fleißigsten, profiliertesten Pianisten, komponierte Kempff, so wie Furtwängler, Symphonien, Kammermusik und Lieder, sogar drei Opern - all dies im modern-nachromantischen Idiom.

Mit seinem wertkonservativen Kulturverständnis deutschnationaler Prägung stand Wilhelm Kempff, obwohl kein Parteimitglied, der Kulturpropaganda des Dritten Reichs zur Verfügung. 1932 war er Mitglied der Preußischen Akademie der Künste geworden. "Deutsches Schicksal" nannte er 1935 eine Kantate auf einen Text Ernst Wiecherts. Kempffs Christentum war wohl der Schutzschild gegen die ideologische Vereinnahmung. Einer "Entnazifizierung" für sein Mitläufertum musste er sich, anders als Furtwängler, nicht unterziehen.

In seinen reifen Jahren entdeckte Kempff auch die Sonaten von Franz Schubert

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich Kempff kulturpolitisch und pädagogisch engagiert. Er spielte 1954 auf der neuen Orgel der Friedenskirche von Hiroshima, gab viele Konzerte in Japan, gründete 1957 in Positano nahe Neapel die "Casa Orfeo", sein Lehrzentrum für junge Pianisten, die er jahrzehntelang im Sommer um sich versammelte, um besonders den Geheimnissen der Beethoven-Sonaten auf die Spur zu kommen.

Die nun edierten frühen Schellack-Aufnahmen demonstrieren Interpretationsgeschichte, dazu die ästhetische Distanz zur Klavierzirzensik oder Ausdruckswut von heute. Wie Kempff das "Singen" melodischer Linien auf dem Klavier poetisch beherrschte, machen gerade diese Einspielungen später Beethoven-Sonaten vernehmbar. Nicht im Sinne von Klangzauberei, vielmehr in klar strukturierter Kunst des Espressivo und Cantabile.

"Nicht zu geschwind und sehr singbar vorzutragen", schreibt Beethoven auf deutsch über den zweiten Satz der Sonate Nr. 27 in e-Moll. Kein Pianist vor und nach ihm wollte die Anweisung so wörtlich, so inspiriert verstanden wissen wie Kempff, der notwendigerweise später Franz Schuberts Sonaten entdeckte. Singbar, nicht zu rasch, erklingt sogar die "Hammerklaviersonate", zerstäuben die Trillerketten in Beethovens letzter Sonate op.111, die der Komponist, so Kempff, als "flimmernde Lichtbündel über den Himmelsraum schießen lässt, die alle Erdenschwere aufheben".

© SZ vom 11.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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