Großausstellung:Haut auf Humpty Dumpty!

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"Postwar" im Münchner Haus der Kunst erforscht die blinden Flecken der Kunstgeschichte in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg. Zu sehen sind auch Bilder aus Nagasaki. Doch andere waren vor ihr da.

Von Catrin Lorch

Der Fotograf muss sich auf den Weg gemacht haben, kurz nachdem die Bombe gefallen war. Yōsuke Yamahata war am 10. August 1945 einer der ersten, die das zerstörte Nagasaki dokumentierten. Er fand zersplittertes Holz, Steintrümmer und aufgerissene Erde, wo ein Stadtzentrum gewesen war. Und überall Tote.

Einige seiner Aufnahmen wurden in der japanischen Zeitung Mainichi Chinbun abgedruckt. Danach waren sie jahrelang nicht zu sehen - die amerikanische Militärregierung verbot nach der Kapitulation Japans jede Veröffentlichung. Man wollte die Hoheit über die Bilder behalten, der weiße Atompilz war ein Motiv, das nicht befleckt werden durfte von Bildern, die zeigten, was er auf der Erde angerichtet hatte. Denn die Nachricht von der Zündung der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki war ein Ereignis, das von so vielen Menschen wahrgenommen wurde, wie kein anderes zuvor, 85 Prozent der Menschheit erfuhren davon - auch Kairo, Teheran und Laos waren, sozusagen, zugeschaltet.

Die "Reise nach Nagasaki", eine Serie von knapp zwei Dutzend Aufnahmen, die bis Anfang der Fünfzigerjahre unter Verschluss gehalten wurden, eröffnen jetzt die Schau "Postwar: Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945-1965" im Münchner Haus der Kunst. Und weil Ausstellungen Bilder nicht einfach zeigen sondern miteinander in Berührung bringen, ist es erwähnenswert, dass die Serie in einem der ersten Säle hängt und sich, Rücken an Rücken, eine Wand teilt mit einem Gemälde, das Francis Bacon in den Trümmern des kriegszerstörten London malte, dem "Fragment of Crucifixion" von 1950. Das Kreuz ist auf dieser Kreuzigung lediglich ein stumpfgrauer Winkel an dem ein paar Körperteile kleben wie weißer, schlieriger Nebel. Den Rest der Leinwand ließ Bacon unbearbeitet.

Zum ersten Mal gelte es heute, einen "wahrhaft globalen Zustand zu beschreiben"

Die Entfernung, in der diese Bilder geschaffen wurden, könnte kaum größer sein. Doch markieren sie nicht einmal die äußerste Spannbreite der "sehr großen Leinwand", die Okwui Enwezor, Direktor des Haus der Kunst, mit diesem Projekt aufspannt. Es geht um den Versuch, mit der Kunst der Nachkriegszeit auch die Weltgeschichte neu in den Blick zu bekommen. Mehr als 300 Werke von 218 Künstlern aus 65 Ländern hat er versammelt.

"Postwar", so heißt es hier, stehe in der Tradition großer historischer Gruppenausstellungen wie "Westkunst", die Anfang der Achtziger im Rheinland von einer neuen Epoche kündete. Heute gelte es aber, "zum ersten Mal in der modernen Ausstellungsgeschichte" einen "wahrhaft globalen Zustand" zu beschreiben. Das Projekt sei deswegen auch als Trilogie angelegt, auf die künstlerische Vermessung der Nachkriegszeit sollen noch die Ausstellungen "Postkolonialismus" und "Postkommunismus" folgen.

Der Titel ist als Ansage zu verstehen. Die Aufmerksamkeit der Kunsthistoriker und der Geschichtswissenschaft sei zu lange vor allem "auf die nordatlantische Welt und deren pazifische Anhängsel" gerichtet gewesen, "als ob der Rest von Asien, Afrika, der Mittlere Osten und Lateinamerika nicht existierten", schreibt Enwezor in seiner Einführung. "Überblicke über die Kunst der Nachkriegszeit sind bekannt für solche Exklusionen und blinde Flecken." Die Fixierung der kommunistischen Staaten auf den Sozialistischen Realismus, die Propagierung der "Weltsprache Abstraktion", wie der beherrschende Stil im Westen von Werner Haftmann genannt wurde, kannte kaum Abweichler.

"Postwar" entwerfe aber keinen neuen Kanon, vielmehr gehe es darum, Verwandtschaften, Bezüge, historische Verklammerungen aufzuspüren. Schon deswegen sind unter den Künstlern bekannte Meister wie Pablo Picasso, Roy Lichtenstein, Karel Appel, Willem de Kooning, Maria Lassnig Piero Manzoni, Joseph Beuys und Gerhard Richter, aber nur wenig, was die Ausstrahlung oder die Abmessungen kanonischer Meisterwerke besitzt. Die würden die kleineren Formate wie "Grünes Viereck" von Mohan Samant aus Bombay oder "Das Bein" des Syrers Marwan Kassab-Bachi erdrücken.

In sehr dichter Hängung drängt sich nun die "Beerdigung" von Gerhard Richter ins Blickfeld der zerstreuten Installation "Hirschdämmerung" von Joseph Beuys. Beide Werke entstanden unmittelbar nach Ende des Krieges, vermeiden aber jeden realistischen Bezug. Und der Besucher kann vor dieser Konstellation darüber reflektieren, dass die westeuropäische Kunst der Nachkriegszeit womöglich das Abstrakte bevorzugte, weil das Grauen des Holocaust - nach Adornos Diktum von der Unmöglichkeit eines Gedichts nach Auschwitz - sich aller Darstellbarkeit entzogen. Doch galt das nicht für die Kunst in Mittel- und Osteuropa, was die Gemälde von Andrzej Wróblewski beweisen. Der 1952 in Vilnius geborene Litauer malte vier Jahre nach Kriegsende sehr realistische Szenen wie "Liquidierung des Gettos/Blauer Chauffeur" und "Exekution mit einem Gestapomann" auf dem der Deutsche nur in Rückansicht die vordere Bildhälfte einnimmt, während eine hellblau getönte Figur, mittig zerschnitten auf dem Bildgrund schwebt.

Die Nähe zu solchen - unbekannteren - Werken, verändert auch die Wahrnehmung der bekannten Klassiker. Henry Moores "Atom Piece", das dasteht wie eine Büste aus Knorpelstücken , wirkt noch körperhafter, wenn man gerade erst die unbetitelten, Gebilde von Lee Bontecou gesehen hat, die an Gasmasken wie auch an Genitalien erinnern. Und in der Nachbarschaft des Mexikaners David Alfaro Siqueiros, dessen Gemälde "Kain in den Vereinigten Staaten" (1947) zeigt wie übermächtige Weiße einen nackten Schwarzen foltern, ist die humanistische Dringlichkeit von Robert Indianas "The Confederacy Alabama" umso sichtbarer. Das Bild wurde im selben Jahr gemalt, in dem Martin Luther King in der Kleinstadt Selma gegen Segregation demonstrierte. Der Slogan, der besagt, dass jeder Staat - wie auch jeder Mensch - seine Rückseite habe, kreist wie ein Werbe-Aufdruck eine kleine Landkarte des Ortes ein.

Der 800-seitige Katalog ist ein Lesebuch zu randständigen Ereignissen aus Politik und Kunst

Die blinden Flecken der Kunstgeschichte, die sich in der Nachkriegszeit lediglich dafür interessiert, dass New York und die Vereinigten Staaten damals Paris und Europa als Zentrum der Kunst ablösten, werden in solchen Gegenüberstellungen sichtbar. Auch der mehr als 800 Seiten starke Katalog ist weniger ein Kunstbegleiter, denn ein Lesebuch zu politischen und künstlerischen Ereignissen, die bislang als randständig oder peripher galten. Das reicht von der Konferenz in Bandung, bei der sich 1955 die Vertreter von 29 jungen afrikanischen und asiatischen Staaten des erwachenden globalen Südens trafen, um den Grundstein für die Prinzipien einer blockfreien Welt zu legen, bis zu Betrachtungen wie "Die Moderne in Bagdad" oder "Die kalligrafische Abstraktion und die sudanesische Moderne".

Auf der Rückseite des Readers ist eine Skulptur ins Leinen eingeprägt, die Umrisse des von Isamu Noguchi aus Schiefertafeln zusammen gesteckten Humpty Dumpty. Der Titel bezieht sich auf eine Figur von Lewis Carroll, ein dickes Männchen, das nach seinem Sturz von der Mauer zerbricht. "Alle Pferde und alle Männer des Königs" hätten ihn nicht mehr zusammensetzen können, heißt es im Kindergedicht mit nicht einmal mildem Bedauern. Die Abbildung ist durchaus als Herausforderung zu verstehen, illustriert sie doch womöglich die Hoffnung der Kuratoren Enwezor, Katy Siegel und Ulrich Wilmes, dass ihr Großprojekt die Weltkunst vom Sockel stupst und gründlich kleinhaut. Bis es mit der Arroganz vorbei ist, weil die großen, dominanten Länder endlich eingebettet sind in eine Landkarte, auf der die kleineren Schauplätze nicht ausgespart bleiben.

Robert Indiana: "The Confederacy Alabama" (1965). (Foto: Morgan Art Foundation / ARS, New York / VG Bild-Kunst)

Aber ist diese Forderung so neu? Katy Siegel konstatiert in ihrem Essay "Kunst, Welt, Geschichte" vielerlei Bemühungen um eine Öffnung der akademischen Disziplinen nach dem Ende der großen politischen Blöcke im Jahr 1989. Und der aus Nigeria stammende Enwezor ist selbst schon als Kurator Teil dieser Bewegung - unter anderem mit seiner Documenta 11 im Jahr 2002, die er auf allen Kontinenten mit Konferenzen vorbereiten ließ.

Globale Perspektiven und international geteilte Verantwortung sind inzwischen kuratorische Standards. Vor allem bei den über den Globus verstreuten Biennalen, die ja nicht nur Ableger der westlichen zeitgenössischen Kunst sind, sondern selbst auch der lokalen Produktion mit viel Aufmerksamkeit nachspüren. Auch wenn Hortensia Völckers von der Bundeskulturstiftung - eine der Hauptförderinnen des Projekts - "Postwar" als Herausforderung für die Museumslandschaft anmoderiert, haben viele große Häuser wie etwa die Tate Modern in London nicht nur ihr Ausstellungsprogramm, sondern auch die Hängung der Sammlung längst um Kunst aus Lateinamerika, Afrika, Asien und Australien erweitert.

Umgekehrt erscheint die Unvoreingenommenheit von "Postwar" in manchen der acht Ausstellungskapitel fragwürdig. Enwezor, bestens vertraut mit zeitgenössischer politischer Kunst, instrumentalisiert hier herausragende Künstler wie Alberto Giacometti und richtet sie passend zu für seine Argumentation. Sind die angeblich "schrumpeligen leichenhaften Figuren auf spindeldürren Beinen" wirklich in gleicher Weise wie die "knochigen aufgeblähten Figuren in den Malereien von Ibrahim El-Salahi" Wiedergänger der "kahlen, ausgezehrten Insassen der Konzentrationslager"?

Was hat Mao-Propaganda mit Rauschenberg zu tun? Beides ist sehr großformatig

Das breite Rollbild "Marching Across the Snow-covered Mount Minshan", das Youfu Jia 1965 malte, wird in seinen Dimensionen eigentlich nur noch von einem gigantischen Siebdruck von Robert Rauschenberg übertroffen. Doch das Gegenüber von Propagandakitsch (Maos Zug mit seinen Getreuen durch Eis und Sturm) mit den vielschichtigen Motiven nach Medienbildern von John F. Kennedy ist eher schlicht. Und eine Gegenüberstellung der Malerei des palästinensischen Malers und Historikers Ismail Shammout "Beginn der Tragödie" oder "Ein Schluck Wasser" (beide 1953) mit figurativen Szenen wie Yohanan Simons "Sabbat im Kubbuz" oder Abstraktionen wie "Life in the Kibbutz" von Yosef Zaritsky konterkariert den eigenen Anspruch, nach dem es ja um ein Panorama der Welt ging, um die große Leinwand. Und nicht um einen kleinkarierten Bilderstreit.

Es ist die Stärke der Kunst, dass sie nicht argumentiert, sondern als Bild bleibt, nachdem das letzte Wort gesprochen ist. Am Ende des Rundgangs ist ein Raum des in Brasilien geborenen Öyvind Fahlström aufgebaut, der aus beweglich aufgehängten Papierkulissen besteht. Mittendrin, in Rückansicht, erscheint ein kleiner, ratloser Mann. Nein, sagt Fahlström, der Auftrag des Weißen Mannes in den Tropen, der ist einfach vorbei. Wer sich mit seinem Blick von links nach rechts durch die Mitte der Sechzigerjahre entstandene Installation tastet, die den sprechenden Titel "Dr. Schweitzers letzte Mission" trägt, landet nämlich bei einem roten Fähnchen. Auf dem steht einfach: "The End".

Postwar. Kunst zwischen Pazifik und Atlantik 1945 - 1965. Haus der Kunst, München. Bis 26. März. www.hausderkunst.de. Katalog 65 Euro, Kurzführer 10 Euro.

© SZ vom 14.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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