Graphic Novel:Sehen und gesehen werden

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Nina Bunjevac erzählt in wunderschönen Schwarz-Weiß-Bildern von ekliger Perversion. Ihr Comic "Bezimena" zeichnet das verstörende Bild eines Triebtäters - mehrfach gebrochen durch Rahmenhandlungen, in denen Frauen das Wort haben.

Von Thomas von Steinaecker

Puh, denkt man sich nach der Lektüre dieser Graphic Novel. Und wäre diese Rezension ein Comic, würde sich das Soundwort in Luft auflösen und dahinter ein großes Fragezeichen erscheinen. "Bezimena", das dritte Buch der kanadisch-jugoslawischen Zeichnerin Nina Bunjevac, ist auf den ersten Blick großartig, auf den zweiten gruselig und auf den dritten äußerst widersprüchlich. Doch von Anfang an. Und da muss man unbedingt über das sprechen, was einem bei Bunjevacs Comics bisher immer ins Auge stach, hier aber noch einmal eine neue Qualität erreicht: Es gibt nicht viele Künstlerinnen, die derart bestechende Schwarz-Weiß-Bilder zeichnen können. Hyperrealistisch wirken sie in ihrem Detailreichtum, und doch zerfällt jedes Panel beim näheren Hinsehen in eine schier unendliche Zahl von Punkten und Schraffuren, als würde dahinter der unheimliche Untergrund der Wirklichkeit erkennbar. Im Unterschied zu ihren früheren Arbeiten vergrößert Bunjevac im vorliegenden Band die Wirkung ihrer Illustrationen noch, indem sie auf jeder der Doppelseiten links auf schwarzem Hintergrund den Text in weißen Sprechblasen wiedergibt, rechts indes nur ein einziges großes Bild.

Die Ästhetik des schauerlichen Realismus passt hervorragend zur Geschichte. In einer namenlosen Großstadt, wahrscheinlich am Anfang des 20. Jahrhunderts, bekommt ein Paar, das eigentlich keine Kinder kriegen kann, doch noch einen Sohn, Benny. Aber der ist mitnichten ein "Gesegneter", sondern ein kleiner Teufel. Schon in der Grundschule fummelt er beim Anblick der niedlichen "weißen Becky" in seiner Hose rum. Später beobachtet der einsame Spanner als Hausmeister im Zoo ungestört junge Frauen in luftigen Sommerkleidern. Eines Tages trifft er hier Becky wieder, die wie zufällig ihr Skizzenbuch vergisst. Als Benny darin blättert, traut er seinen Augen nicht. Nicht nur ist auf den Zeichnungen er selbst beim Fetisch-Sex mit Becky und anderen Frauen dargestellt; neben jedem Bild steht auch noch eine genaue Datumsangabe. So findet sich Benny zur fraglichen Zeit bei Becky ein, und alles geschieht wie beschrieben. Dann steht eines Tages die Polizei vor Bennys Tür, er wird des Mordes an drei kleinen Mädchen angeklagt. Benny will sich auf Beckys Buch berufen, aber auf einmal sind darin nur mehr Kinderzeichnungen von Eisbären ...

Benny glotzt durchs Fenster, aber die "weiße Becky" blickt selbstbewusst zurück. (Foto: Avant)

Bei so viel ekliger Perversion in schönem Gewand ist man bei der Lektüre zumindest beruhigt, dass man das alles kunstgeschichtlich einigermaßen einordnen kann. Im Märchenton der Erzählung klingen die Brüder Grimm an, einsamer Wald, Mondnacht, verirrte Kinder. Und natürlich weckt der junge Benny, der hier als trauriges Opfer seiner Triebe dargestellt wird, Assoziationen an Fritz Langs "M". Zudem setzt Bunjevac in ihren Zeichnungen auf filmspezifische Stilmittel wie Kreisblende, Rückprojektion oder Bild-in-Bild-Montage. Auch die fragwürdige pädophile Ästhetik der letzten Installation Marcel Duchamps ist nicht weit, "Étant donnés", wo man durch ein Guckloch einen nackten Mädchenleib mit gespreizten Beinen betrachten kann. Diese männliche Perspektive wird aber durch die archaisch anmutende Rahmenhandlung gebrochen: Bennys Geschichte ist die Erzählung der weisen Bezimena, zu Deutsch "Namenlos", und zugleich rätselhafte Antwort auf die Klage einer Priesterin über die Verwüstung ihres Tempels. Damit wird die Binnenhandlung zum Gleichnis - für was genau, bleibt allerdings unklar. Um die Sache noch zu verkomplizieren, kommt ein zweiter und dritter Rahmen hinzu. Die Sprechblasen auf den linken Buchseiten lassen auch die Episode mit Bezimena und der Priesterin als Geschichte in der Geschichte erkennen, als weitere Parabel, die sich zwei unsichtbar bleibende Freundinnen erzählen. Und im autobiografischen Nachwort beschreibt Bunjevac erschütternd intensiv, wie sie als Jugendliche knapp einer Vergewaltigung entging. Sie beschließt den Text mit der Widmung an alle "vergessenen und namenlosen Opfer sexualisierter Gewalt".

Schon einmal, in ihrem Memoir-Comic "Vaterland", hatte Bunjevac die einfühlsame Annäherung an einen Täter gewagt: Ihr Vater war als Mitglied in einer Terrorzelle serbischer Nationalisten in Kanada beim Bombenbau ums Leben gekommen. Das Buch ist die differenzierte Analyse eines Verbrechers, eines vermeintlich starken, brutalen Mannes, der zugleich das Opfer seiner Kindheit und einer unglücklichen Verkettung von Zufällen war. Versucht der vorliegende Band als Psychogramm eines Getriebenen etwas Ähnliches? Dazu passt weder die spürbare Lust der Autorin am virtuosen Jonglieren mit surrealistischen Stilmitteln noch der völlige Verzicht auf eine starke weibliche Perspektive. So demonstriert "Bezimena" am Ende unbeabsichtigt, in was für Widersprüche sogar ein handwerklich meisterhafter Comic gerät, soll er an eindeutige ideologische Diskurse angeschlossen werden - selbst wenn die besten Absichten im Spiel sind.

Nina Bunjevacs Spanner-Geschichte ist auch eine Variation der Sagen um die Göttin Artemis, die Männer, die sie nackt sahen, hart bestrafte. Einen verwandelte sie in einen Hirsch - auch Benny träumt davon, dass ihm ein Geweih wächst. (Foto: Avant)

Nina Bunjevac (Text und Zeichnungen): Bezimena. Aus dem Englischen von Benjamin Mildner. Avant-Verlag, Berlin 2020. 224 Seiten, 30 Euro.

© SZ vom 19.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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