Graphic Novel:Damendramen

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Anna Sommers Bilder haben keine Rahmung. Der Weißraum wirkt aber nicht luftig, sondern unterstreicht die Ausweglosigkeit ihrer Geschichte. (Foto: Edition Moderne)

Maliziös und unerbittlich erzählt Anna Sommer im Comic "Das Unbekannte" vom Gefängnis der Gefühle.

Von Thomas von Steinaecker

Stellen Sie sich vor: Sie sind Inhaberin einer kleinen Modeboutique. Nachdem die letzte Kundin Ihren Laden verlassen hat, dringt Wimmern aus einer der Umkleidekabinen. Sie gehen dem Geräusch nach - und entdecken ein Baby, das offenbar gerade erst zur Welt gebracht wurde. Was würden Sie tun?

Das ist die Ausgangssituation des neuen Comics der Schweizer Zeichnerin Anna Sommer. Bereits in ihren früheren Werken, die sie zu einer der bekanntesten deutschsprachigen Stimmen der Neunten Kunst gemacht haben, erkundete Sommer präzise und in einer Mischung aus poetischem Witz und schonungsloser Gehässigkeit Frauenleben oder eben "Damen Dramen", wie 1996 ihr Debütband hieß. Und auch das vorliegende Buch ist ein solches Damendrama.

Helen, die Ladenbesitzerin, entscheidet sich für die absurdeste aller Möglichkeiten: Sie behält den kleinen Jungen; nimmt ihn jedoch nicht mit nach Hause zu ihrem Partner Paul, sondern lässt ihn einfach über Nacht, in einem großen Karton als Wiege, in einem Nebenzimmer ihres Geschäfts zurück. "Guten Tag gehabt?", fragt ihr Mann. Antwort: "Im Laden ging's heute drunter und drüber."

Von da an führt sie ein Doppelleben: Der abendliche Alltag mit dem auffallend glatzköpfigen Paul läuft weiter wie bisher; Sex und Urlaubspläne sind das einzige, was für Spannung in der Beziehung sorgt. In der Boutique aber findet Helen plötzlich eine ungeahnte Form der Erfüllung in ihrer neuen Mutterrolle. Heimlich kümmert sie sich zwischen ihrer Kundschaft um ihr Findelkind, kauft Babykleidung, Spielsachen und bespritzt ihre Brust mit Milch, damit es daran nuckelt. Und dann ein harter Cut. Eine scheinbar völlig andere Geschichte. Wir lernen zwei Teenager in einem Internat kennen: Vicky, schwerfällig und dick, und ihre Freundin Wanda, die sie mit auf eine Sexparty nimmt. Nach dem Unterricht steht dann Vicky überraschend im Büro ihres Lehrers; offenbar verbindet die beiden eine Affäre, die er aber nun beenden will. Und Moment, kennen wir nicht den Mann mit der Glatze aus dem Plot mit Helen?

Anna Sommer wurde für ihre Graphic Novel mit dem mehrdeutigen Titel "Das Unbekannte" dieses Jahr eine für eine deutschsprachige Zeichnerin seltene Ehre zuteil: Sie war für den großen Preis des Festivals in Angoulême nominiert, die bedeutendste Comicauszeichnung Europas. Und wirklich: Wie Anna Sommer diese beiden Parallelgeschichten, die anfangs auf den ersten Blick kaum etwas miteinander zu tun haben, immer enger verwebt und sie schließlich zusammenführt, ist äußerst gekonnt, dazu ziemlich spannend und erinnert in seiner mechanisch-maliziösen Unerbittlichkeit an die französischen Filme Michael Hanekes. Schnell entfaltet sich eine intensiv bedrückende Atmosphäre. Das liegt zum großen Teil an den schwarz-weißen Federzeichnungen Sommers. Es genügt ihr oft nur ein Stuhl oder ein Sofa, und sofort steht dem Leser die jeweilige Kulisse sehr klar vor Augen. So liegt denn der Schwerpunkt auch auf den realistisch angelegten Figuren, die ganz aus Konturen bestehen, und deren Gestik bei aller Sparsamkeit der Mittel sofort eine breite Palette von Gefühlen vermitteln.

Das Auffallendste an den beeindruckenden Bildern ist freilich, dass sie, anders als in den meisten anderen Comics, keine Rahmung besitzen. Die Szenen fließen ineinander, ohne dass dies die Lesbarkeit stören würde. Das zeitigt einen erstaunlichen Effekt. Denn eigentlich sollte man ja annehmen, dass der Wegfall der Begrenzungen eine größere Luftigkeit zur Folge hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Hier gibt es keinen Ausweg. Es ist, als würde das Weiß des Papiers, das hier dominiert, einen permanenten Störton erzeugen, dessen Höhe in den Ohren schmerzt. Auch gleicht die Welt, die sich vor dieser Kulisse abspielt, einem Gefängnis der Gefühle. Die drei Hauptfiguren, Paul, Helen und Vicky, sind weder sonderlich sympathisch noch tiefgründig. Besonders bei Vicky fragt man sich, wie sie sich überhaupt angesichts ihrer emotionalen und intellektuellen Beschränktheit auf einer derart anspruchsvollen Schule halten kann. Auch die männliche Hauptfigur, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, ist ein richtiges Ekelpaket, das gewissenlos seine Partnerinnen ausnutzt. Helen wiederum zeigt zwar die Reflexe einer Mutter; ihre Entscheidung, sich tagsüber fürsorglich um das Baby zu kümmern und es nachts sich selbst zu überlassen, ist dann jedoch von kaum überbietbarer schizophrener Grausamkeit. Ja, hier liegt der entscheidende Schwachpunkt des Buches. Denn die Prämisse, unter der die Handlung überhaupt in Gang gesetzt wird, ist derart abwegig und unrealistisch in einer Geschichte, deren künstlerisches Gelingen ganz davon abhängt, dass man bereit ist, ihren zahlreichen Zufällen und Finten Glauben zu schenken und daher auch zu folgen. Aber die Behauptung, dass ein Neugeborenes, das zudem erstaunlich sauber und leise auf die Welt kommt, ganze sieben Monate viele Stunden am Tag sowie die Nächte hindurch in einem kaum gesicherten Bett ganz auf sich selbst gestellt gesund und unbemerkt übersteht, will nicht einleuchten. Oder anders: Dieser Kunstgriff wirkt nicht so sehr als Metapher als vielmehr als narrative Bequemlichkeit. Das ist bedauerlich. Denn aus diesem Buch mit seinen interessanten Zeichnungen und der vielversprechenden Figurenkonstellation hätte ein kleines Meisterstück werden können.

Anna Sommer : Das Unbekannte. Graphic Novel. Edition Moderne, Zürich 2018. 96 Seiten, 28 Euro.

© SZ vom 27.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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