Geschichte:Wie man Unruhen verhindert

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Und Kriegen vorbeugt: Heinz Duchhardt schildert den Aachener Kongress 1818 als ein "europäisches Gipfeltreffen im Vormärz". Trotz guter Absichten hielt die Freude über die Vereinbarungen nicht lang.

Von Stephan Speicher

Grabbe lässt sein Napoleon-Drama mit der Begegnung Wellingtons und Blüchers auf dem Schlachtfeld von Waterloo enden. Die letzten Worte gehören Blücher: "Gemeine, Generale, Unteroffiziere (...), gleich brav in Glück und Not - Wird die Zukunft eurer würdig - Heil dann! - Wird sie es nicht, dann tröstet euch damit, dass eure Aufopferung eine bessere verdiente". Als der Text 1831 im Druck erschien, wussten die Leser, wie sie das zu verstehen hatten. Blücher hatte es für sie geahnt: Die Zukunft, unwürdig des Volkes.

Diese Meinung hat lange das populäre Bild des frühen 19. Jahrhunderts beherrscht: Mit dem Sieg über Napoleon beginnt die Restaurationsphase. Die Versprechen insbesondere des preußischen Königs werden nicht eingelöst, mit den Karlsbader Beschlüssen beginnt die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, das Spitzelwesen, die Kujonierung der Universitäten. Was nicht verboten ist, das ist Biedermeier. Seit einigen Jahren aber wächst die Neigung, sich die Zeit neu anzusehen. Die große Metternich-Biografie von Wolfram Siemann, vor zwei Jahren erschienen, hat Eindruck gemacht. Und was speziell die Außenpolitik dieser Epoche angeht, so hat der Historiker Heinz Duchhardt Vergleichbares geleistet, wenn auch nicht in dem einen umfassenden Buch.

In Frankreich wurde die Beobachtungsarmee als nationale Kränkung empfunden

Nun hat er sich den Aachener Kongress vorgenommen, in einem schmalen, für ein größeres Publikum berechneten Band. Im Herbst 1818 treffen sich die Abgesandten Englands, Frankreichs, Österreichs, Preußens und Russlands. Das Hauptproblem bildet Frankreich. Nach dem Ende Napoleons bei Waterloo war es zu einem neuen Friedensvertrag gekommen, dem Zweiten Pariser Frieden. Die Alliierten hatten eine Beobachtungsarmee in Frankreich stationiert, um sich vor einer neuerlichen Aggression zu schützen, dazu waren hohe Kontributionen festgelegt worden. Doch bestimmte der Friedensvertrag, dass darüber innerhalb von drei Jahren neu zu entscheiden sei.

In Frankreich wurde die Beobachtungsarmee der alten Gegner als eine nationale Kränkung empfunden. Und immer noch schien das Land voll revolutionärer Brandraketen zu stecken. Ludwig XVIII. und die Bourbonen-Monarchie überhaupt erfreuten sich keineswegs allgemeiner Schätzung; zu ihrer Stabilisierung musste man ihnen einen Erfolg gönnen. Und so wurde in Aachen der Abzug der Beobachtungsarmee beschlossen und auch eine sehr rücksichtsvolle Regelung der Kontributionsfrage. Zunächst war eine Summe von siebenhundert Millionen Franken bestimmt worden, ein gewaltiger Betrag. In Aachen einigte man sich auf 265 Millionen.

Das sind technische Dinge, sie müssten nicht unbedingt interessieren, steckte nicht sehr viel mehr dahinter. Da ist zum einen die anhaltende Revolutionsangst. Europa ist schockiert von den Opfern, die ihm in Napoleonischer Zeit abverlangt wurden. Zu den Toten der Kriege - allein in der Völkerschlacht von Leipzig sind mehr als 90 000 Männer gefallen - kommt die wirtschaftliche Auszehrung durch die Napoleonische "Raubwirtschaft". Die Armut ist groß, die Staaten müssen denkbar sparsam wirtschaften. Der "Vormärz", die demokratische Opposition gegen die Regierungen, speist sich auch aus der Enttäuschung der jungen Akademiker, trotz ihrer Qualifikation keine Stelle im Staatsdienst zu bekommen.

In dieser Situation setzen die Regierungen alles daran, den Frieden zu stabilisieren. Man geht auf Frankreich zu, trotz allen Misstrauens. Die Quadrupelallianz der Briten, Österreicher, Preußen und Russen besteht weiter, sie einigt sich auf ein "Militärprotokoll", das für den Fall französischer Aggressionen die Interventionen der Alliierten bestimmt. Zugleich lud man Frankreich ein, an der Führung Europas gleichberechtigt teilzunehmen.

Zu diesem Bemühen, den Frieden zu befestigen, gehören auch die Formalien des Aachener Kongresses. Zar Alexander I., der österreichische Kaiser Franz I. und der preußische König Friedrich Wilhelm III. reisen an und werden die ganze Zeit über in der Stadt sein. Der englische Prinzregent bleibt auf der Insel, seine verfassungsrechtliche Lage ist eine andere; auch der französische König fehlt. Unter den Ministern war es für einen Moment unklar, ob es Sinn habe, die Monarchen hinzuziehen. Doch einmal ging es um den Zaren, der sich liberaler Neigungen verdächtig gemacht hatte und als Freund der französischen Belange galt; ihn wollten die anderen einfangen. Darüber hinaus sollten die Monarchen der Öffentlichkeit vor Augen führen, dass die großen Mächte einträchtig das Schicksal des Kontinents bestimmen wollten. Und so wurde man nicht müde, "ihre Brüderlichkeit, ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu einer christlichen Familie und ihre Funktion als Beauftragte der Vorsehung" herauszustellen.

Aachen, die Stadt Karls des Großen, war da gerade der richtige Ort. Und die Aachener spielten mit. Franz I. wurde begeistert empfangen (Friedrich Wilhelm III. weit weniger), er war noch zum Kaiser des Römischen Reiches gekrönt worden. Das Spiel führte der uralte Dekan des Domstifts auf den Höhepunkt, als er vor dem Kaiser, als dieser den Dom besuchte, auf die Knie fiel und stammelte, nun könne er getrost ins Grab steigen, denn er habe "den Gesalbten des Herrn" noch einmal gesehen. Der Dekan gab den Simeon des Lukas-Evangeliums (2, 25 - 32), der Kaiser rückte damit in die Nachfolge Christi.

Das mag komisch wirken, und selbstverständlich ging es auch darum, die Öffentlichkeit zu bearbeiten. Aber das sollte nicht ablenken von dem Ernst, mit dem die Frage einer dauerhaften Friedensordnung verfolgt wurde. Auf die Kriegserfahrungen sollten neue Grundsätze der Außenpolitik antworten, Konfliktprophylaxe durch Zusammenwirken. Die Schlagworte von Frieden, Freundschaft, Völkerrecht oder dem Geist der Brüderlichkeit klingen erhaben; Metternich sprach von der Heiligen Allianz, die sich eine Politik unter dieser Fahne vorgenommen hatte, als einem "lauttönenden Nichts", der englische Außenminister Castlereagh von "prachtvollem Mystizismus".

Aber die Kritik der alten Politik war sehr genau. In Aachen wollte man sich nicht bloß von der Revolution absetzen, sondern auch von den Gebräuchen des Ancien Régime. Außenpolitik war betrieben worden nach dem Grundsatz des Gleichgewichts der Mächte. Denen hatte man eine naturwüchsige Neigung zur Machtausdehnung zugeschrieben, die allein durch das Zusammenwirken der anderen im Gleichgewicht gehalten werden könne. Ein "Kontinuum von Konflikten" war unvermeidlich und eine nicht abreißende Kette von Kriegen. Dem sollte ein neuer Geist entgegentreten, der auf Ausgleich beruhte, die Unverletzlichkeit der Territorien postulierte und damit den Krieg ausschloss. Vorkämpfer dieser Ideen war der Zar, der sich tatsächlich auf seine Ideale in Anspruch nehmen ließ, so in der Griechenlandkrise ab 1821.

Man kann hier den Vorschein eines gemeinsamen Sicherheitssystems sehen. Die Freude dauerte nicht zu lang

Diese neue Politik blieb nicht ohne Erfolge. Botschafterkonferenzen der fünf Mächte waren schon nach dem Zweiten Pariser Frieden in Paris, London und Frankfurt als Sitz des Bundestages eingerichtet worden. Und auch dem Aachener Kongress wurde eine angenehme Atmosphäre attestiert. England, Österreich, Preußen und Russland fanden eine Form, Frankreich in die Lenkung der europäischen Geschicke einzubeziehen. In einer "öffentlichen Erklärung" wurde dies Europa zur Kenntnis gebracht. Die fünf Mächte sollten gemeinsam Verantwortung übernehmen - bei Respektierung der Souveränität aller Mitglieder des Staatensystems. Man kann hier den Vorschein eines europäischen Sicherheitssystems sehen. Allerdings dauerte die Freude nicht zu lang. England war auf die Dauer zu einem solchen kontinentaleuropäischen Engagement nicht bereit, und der Souveränitätsverzicht, der in der gemeinsamen Verantwortung liegt, missfiel auch anderen Staaten, Österreich vor allem.

Allerdings und nicht nur zufällig war der Aachener Kongress, anders als der Wiener, streng gegen die Öffentlichkeit abgeschirmt. Noch waren die innenpolitischen Unruhen und Repressionen nur am Rande Gegenstand der Verhandlungen. Aber in russischem Auftrag veröffentlichte Alexander Sturza schon eine Denkschrift, die vor revolutionären Umtrieben warnte und die Universitäten unter Kuratel stellen wollte. Sie machte großen Ärger und weckte eine antirussische Stimmung, die 1819 zum Mord an August Kotzebue beitrug, dem Lustspielautor und literarischen Kommissar des Zaren.

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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