Gesangsgruppe:Om und Amen gegen die Trauer

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Man muss nicht zwingend Noten lesen können, um mit Singen seine Trauer zu verarbeiten. (Foto: Catherina Hess)

Ein Münchner Bestattungsinstitut bietet seit fünf Jahren einen Singkreis für Menschen an, die eine schwierige Situation zu verarbeiten haben. Die Leiterin Dagmar Aigner setzt auf die "stärkende Kraft des Singens"

Von Dirk Wagner

Ich hatte gehofft, der Schmerz lässt nach. Doch er wurde immer stärker", skizziert eine Teilnehmerin des Singkreises für Trauernde in München ihre Situation. Ihr Mann war schon Jahre tot, bevor sie den Singkreis zum ersten Mal aufsuchte. In einer Gesellschaft, in der jeder funktionieren muss, fand sie keinen Platz für Trauerarbeit. Seit fast fünf Jahren bietet das Münchner Bestattungsinstitut Aetas jeden Dienstag von 19 bis 21 Uhr in der Baldurstraße 39 einen Singkreis an. Jeder darf hier mitmachen. "Nicht alle trauern um einen Verstorbenen. Manche trauern auch um eine gescheiterte Beziehung oder um die zerstörte Natur", sagt die ausgebildete Sängerin Dagmar Aigner, die von Anfang an den Singkreis leitet. Der sei auch kein Chor, dessen Ambition der perfekte Klang oder ein Konzert ist, betont sie. In dem Singkreis gehe es vielmehr um die stärkende Kraft des Singens selbst. Die wächst bereits aus der Gemeinschaft, die ein gemeinsames Singen schafft. Wissenschaftler messen dem Singen zudem eine direkte heilende Wirkung bei.

"Singen beeinflusst mit der Gehirnchemie unsere hormonellen Kreisläufe. Schon nach etwa 30 Minuten kommt es zur Reduktion des Stresshormons Adrenalin und zur Produktion der Glücksgefühle erzeugenden Botenstoffe Betaendorphin, Serotonin und Noradrenalin. Singende Menschen produzieren also ihre eigenen Antidepressiva, allerdings ohne Nebenwirkungen", sagt Sonja Heim, die Geschäftsführerin des internationalen Netzwerks zur Förderung des Singens in Gesundheitseinrichtungen, das sich Singende Krankenhäuser nennt. Eine für jeden spürbare Auswirkung des regelmäßigen Singens ist für den Musiktherapeuten und Mitbegründer des eingetragenen Vereins, Wolfgang Bossinger, die vertiefte Atmung. Mit ihr würde eine bessere Sauerstoffversorgung des gesamten Organismus einhergehen, und damit eine Erhöhung der Herz-Kreislauf-Fitness. Empirisch belegt sei der Nutzen des Singens für die Trauerarbeit allerdings nicht, entgegnet die Psychologie-Professorin Rita Rosner. Trotzdem stellt Bossinger in seinem Buch "Die heilende Kraft des Singens" fest, dass in allen Kulturen das gemeinsame Singen Bestandteil von Trauerzeremonien ist.

Derartige Totenlieder singt Dagmar Aigner mit den Trauernden allerdings nicht. Aigner sucht Lieder aus, die Trost spenden und Kraft verleihen. Das darf auch mal ein "Ave Maria" sein, wobei es hier nicht auf die Marienverehrung ankommt, sondern auf die Wirkung der gesungenen Vokale. Eine kräftigende Wirkung findet Aigners Singkreis aber auch im jüdischen "Shalom aleichem" oder im buddhistischen "Om tare tuttare ture soha". In diesem Zusammenhang hatte schon der Musikjournalist Joachim-Ernst Berendt in seiner Radio-Soiree "Nada Brahma - Die Welt ist Klang" die Verwandtschaft der Wörter "Om" und "Amen" mit dem Hinweis beschrieben, dass das Wort "Amen" nie übersetzt wurde, sondern seines Klanges wegen in allen Sprachen als Mantra beibehalten wurde.

Eine sehr starke Wirkung haben, laut Aigner, auch indianische Lieder, die sie immer wieder mit den bis zu 20 Trauernden in ihrem Singkreis singt: "The river is flowing, flowing and growing.The river is flowing back to the sea". Oder man singt Hilde Domins tröstendes Gedicht: "Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten". Dagmar Aigner singt die Lieder vor, erklärt ihre Herkunft und weist bei religiösen Liedern darauf hin, dass man sich an Begriffe wie Gott oder Lord nicht stoßen muss, falls man ungläubig ist oder eine andere Religion präferiert. Anstelle solcher Begriffe kann man sich auch andere denken.

Wichtig ist den Teilnehmern auch das Ritual, das zu einem wöchentlichen Besuch des Singkreises gehört, und das keiner missen möchte. Angefangen mit der gemeinschaftlichen Begrüßung, in der auch die Abwesenden, das heißt also die Betrauerten, angerufen werden. Bis hin zu einem indianischen Abschied, bei dem sich alle Teilnehmer an die Hand nehmen und mit frisch geschöpfter Kraft "Hey Hey Ho" rufen. Zu den Ritualen zählt aber auch eine längere Pause, in der die Teilnehmer Tee trinken und sich austauschen. Mitunter kommt dabei sogar eine fröhliche Stimmung auf, die die unterschiedlich erlebte Trauer der einzelnen dennoch zulässt.

"Manchmal geraten Menschen, die ihren Gefühlen keinen Raum geben, später viel schneller in Burnout-Situationen, weil sie neben der normalen Arbeit unterschwellig auch noch den Verlust bewältigen müssen", sagt Sonja Heim. Gemeinsames Singen mit anderen Trauernden an den Rändern des Alltags könne genau solchen Situationen vorbeugen. Ein Bestattungsinstitut sei hier als Anknüpfungspunkt ideal, "weil die Trauernden keine anstrengende Recherche nach Unterstützungsmöglichkeiten vornehmen müssen", nennt Heim als Grund dafür, dass das Bestattungsinstitut Aetas dem Netzwerk Singende Krankenhäuser angehört, quasi als "singendes Bestattungsinstitut". Deutschlandweit als das einzige.

© SZ vom 31.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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