Gerhard Schulze: "Krisen":Keine Angst vor Banalitäten

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Sie wollen ein Buch zur Krise veröffentlichen? Gerhard Schulze zeigt: Es gibt ein Patentrezept. Sie müssen die Welle nur auf dem Trittbrett reiten, große Gesten bemühen, ein bisschen Kant zitieren - aber auf keinen Fall richtig zur Sache kommen.

Jens-Christian Rabe

Hat die Krise die Bücher, die sie verdient? Klar. Dieses Mal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen von Kenneth Rogoff und Carmen M. Reinhart oder hierzulande vielleicht Joseph Vogls Das Gespenst des Kapitals. Sind die Läden trotzdem voller Bände, die versuchen, die Welle auf dem Trittbrett zu reiten? Allerdings. Ein besonders erstaunliches Exemplar hat am vergangenen Freitag der Frankfurter S.-Fischer-Verlag veröffentlicht: Krisen. Das Alarmdilemma.

"Was tun bei Alarm? Soll man ihn ernst nehmen und riskieren, dass man seine Zeit verschwendet - oder soll man ihn als Fehlalarm betrachten und riskieren, dass das Auto gestohlen wird? Das ist das Alarmdilemma." Gerhard Schulzes Buch "Krisen. Das Alarmdilemma" beruht auf einem intellektuellen Fehlschluss. (Foto: dpa)

Autor ist der 66-jährige Soziologe Gerhard Schulze, der bis zu seiner Emeritierung in Bamberg Professor für empirische Sozialforschung war und in den frühen neunziger Jahren mit der Diagnose bekannt wurde, dass ein erlebnisreiches Leben zu haben der zentrale Imperativ der Zeit sei. Das 1992 erschienene Buch zur These, Die Erlebnisgesellschaft, das das griffige Etikett gleich im Titel lieferte, wurde ein Bestseller und Gerhard Schulze ein gefragter Zeitdiagnostiker.

Es folgte mit Kulissen des Glücks (1999) ein Buch zur "Eventkultur" der ausgehenden Neunziger ("Betrachten wir Guildo Horn, der 1998 für kurze Zeit zum öffentlichen Ereignis wurde und schnell wieder in Vergessenheit geriet."), danach eines zur Frage, wohin sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert bewegt ( Die beste aller Welten, 2003) und 2006 schließlich Sünde - Das schöne Leben und seine Feinde, eine Verteidigung des massenhaften individuellen Glücks der westlichen Konsumgesellschaft. Und jetzt also Krisen. Das Alarmdilemma.

Der Verlag sagt, es sei "pointiert" und "essayistisch glänzend". Nach der Lektüre wird man den Gedanken nicht los, dass der Klappentextdichter ein anderes Buch gelesen haben muss. Auf den Punkt ist allenfalls, dass es exakt zehn Kapitel hat. Aber eigentlich ist Gerhard Schulze einfach immer wieder unglücklich darüber, wie seiner Ansicht nach mittlerweile über Krisen gesprochen wird. Es sind ihm zu viele Vereinfachungen im Spiel und zu wenig Sinn für Ambivalenzen und Komplexität.

Es sei vergessen worden, dass zur Wahrheit immer auch die Einsicht gehöre, dass man die Wahrheit nicht sicher habe. Letztlich sei jedoch alles, was wir tun riskant. Wir sollten deshalb anerkennen, dass wir in einem lebenslangen Dilemma leben: "Was tun bei Alarm? Soll man ihn ernst nehmen und riskieren, dass man seine Zeit verschwendet - oder soll man ihn als Fehlalarm betrachten und riskieren, dass das Auto gestohlen wird? Das ist das Alarmdilemma."

Das ist alles. Das Buch beruht also auf einem intellektuellen Fehlschluss. Es ist in dem Glauben geschrieben, dass alles, was ein Autor als bahnbrechende Einsicht verkauft, tatsächlich eine bahnbrechende Einsicht ist. Es lässt sich allerdings sehr gut als Handbuch lesen. Für den Fall, dass man bei einem großen und angesehenen deutschen Verlag ein Sachbuch zur Krise unterbringen möchte, enthält es mindestens fünf sehr nützliche Lektionen.

Lesen Sie auf Seite 2, wie Sie nicht vor Banalitäten aber auch vor großen Gesten beim Verfassen eines Buches über die Finanzkrise zurückschrecken sollten.

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Erstens. Werfen Sie zunächst zwei Kapitel, oder mindestens fünfzig Seiten lang Nebelkerzen. Tun Sie so, als kämen Sie sofort zum Thema, nennen Sie das erste Kapitel zum Beispiel "Worum es geht", aber kommen Sie auf keinen Fall wirklich zur Sache. Erzählen Sie lieber eine uralte Geschichte, mit der Sie ihre historische Übersicht beweisen können. Irgendwas vom Untergang der Titanic vielleicht und wie fahrlässig die Passagiere auf die Katastrophe zunächst reagierten.

Bleiben Sie auf keinem Fall auf dem Boden

Danach wäre etwas Kant nicht schlecht. Seine Aufforderung zum Selbstdenken vielleicht. Geht immer. Lassen Sie dann alsbald aber auch die griechische Philosophie kurz auftreten und deren Geschenk an die Moderne: die Skepsis.

Jetzt haben Sie zwei Seiten Platz, um Ihre erste diffizile Unterscheidung zu entfalten: nämlich die zwischen "warnender" und "beschwichtigender" Skepsis. Danach sollten Sie behaupten, dass die Skepsis "in den letzten Jahren" vollständig diskreditiert worden sei. Sagen Sie aber auf keinen Fall, wer es war. Dann ein längeres Kant-Zitat. Am besten aus Was ist Aufklärung?.

Jetzt können Sie Ihren zweiten Joker aus dem Ärmel holen: Behaupten Sie einfach mal was Steiles, dass alle von Krise reden zum Beispiel, aber kaum jemand "spontan angeben" könne, was genau gemeint sei. Dann schnell einen kleinen Allerwelts-Dualismus. Lebenswelt versus System wäre schön und noch was Härteres. Eine "allegorische Anthropologie" etwa. Soll heißen, wir sind immer drei in einem: Besorgter, Pionier und Hausmeister.

Zweitens. Tun Sie im zweiten Viertel des Buches mit großer Geste so, als hätten Sie zum Thema alles gelesen, und müssten leider konstatieren, wie skandalös lückenhaft die Debatte noch immer ist. Schreiben Sie zum Beispiel: "Beginnen wir mit der Finanzkrise. Dazu wurde seit 2008 unendlich viel gesagt und geschrieben. So gut wie niemand kam auf die Idee, das jeweils gerade vorausgesetzte Modell der normalen Weltwirtschaft überhaupt zu erwähnen."

Drittens. Meta, meta, meta! Bleiben Sie also auf keinen Fall auf dem Boden. Ziehen Sie sich als Beobachter auf eine erste, besser noch auf eine zweite Meta-Ebene zurück: "Wie aber soll man im Krisenfall mit dem Vermutungscharakter des Wissens umgehen? Wie kann man sich ein Urteil bilden? Ist es unmöglich? Nein, denn eines kann man tun: Man kann die Diskurse von außen betrachten, von der Meta-Ebene."

Viertens. Stellen Sie Fragen. Unbedingt auch öfters mehrere hintereinander. Sie wissen ja, eine gute Frage ist die halbe Miete. Mindestens. Aber stellen Sie sie so, dass die Antwort immer sofort klar ist. Das hat zwei unschlagbare Vorteile: Sie können sich die Antwort sparen und der Leser glaubt sofort, er denke selbst: "Wissen sie (die Diskursteilnehmer; Anm. d. R.), was sie tun, wenn sie über Krisen reden? Wollen sie es überhaupt wissen? Kultivieren sie vernünftige Regeln, denen sich alle unterwerfen? Lassen sie zu, was sie am meisten ärgert und gleichzeitig am meisten voranbringt - Gegenargumente, Zweifel, Kritik?"

Fünftens. Keine Angst vor Banalitäten. Wenn Sie nur genug davon unterbringen, stehen die Chancen gut, dass man es Ihnen letztlich als Liebe zur Weisheit auslegen wird. Schreiben Sie zum Beispiel: "Gerade dann, wenn vieles unklar ist, braucht man eine Diskussion auf hohem Niveau." Oder: "Krisen - wie wir sie erleben - sind Normalitätsbrüche und manchmal Normalitätskatastrophen." Oder auch einfach: "Nicht nur das Wissen wächst, sondern auch die Ungewissheit."

Bei Adorno hieß es einmal, dass in einem philosophischen Text alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen sollten. Krisen ist ein Buch, dessen Autor den Satz etwas zu ernst genommen und sich dann auch noch für den falschen Mittelpunkt entschieden hat.

Ein Buch wird nicht daraus, nur ein Steinbruch aus Banalitäten, der so tut, als riskiere er etwas. In seiner etwas orientierungslosen Redundanz ist Krisen. Das Alarmdilemma selbst Teil der Diskurskrise, auf die es vorgibt, eine Antwort zu sein. Alles, was gesagt werden soll, ließe sich bequem in einem kurzen Zeitungsartikel schreiben. Nichts wäre falsch in diesem Artikel, aber auch nichts wirklich interessant.

Gerhard Schulze: Krisen. Das Alarmdilemma. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 251 Seiten, 19,95 Euro.

© SZ vom 14.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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