Geisteswissenschaften:Postkolonialer Planet

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Der Klimawandel sollte auch die Kulturwissenschaften beschäftigen. Was hindert Gemeinschaften daran, sich global verantwortlich zu fühlen? Darüber hielt jetzt der Historiker Dipesh Chakrabarty einen Vortrag in München.

Von Lukas Latz

Der Soziologe Harald Welzer wunderte sich in seinem 2008 erschienenen Buch "Klimakriege" noch darüber, dass der Klimawandel in der wissenschaftlichen Forschung nur unter Physikern und Geologen zur Sprache komme. In den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sei er dagegen noch schockierend wenig präsent. Das Erstaunen ist verständlich: Unser Bewusstsein über die Gefahr, dass große besiedelte Räume in absehbarer Zeit unbewohnbar werden, müsste sich doch irgendwie spürbarer in die Kulturen einschreiben und unser Zusammenleben prägen.

Der Historiker Dipesh Chakrabarty, 2014 mit dem Toynbee-Preis ausgezeichnet, hielt jetzt an der Ludwigs-Maximilians-Universität die "Munich History Lecture". Dabei zeigte er , dass sich die Kulturwissenschaften in Sachen Klimawandel in den letzten acht Jahren durchaus weiterentwickelt haben. Chakrabarty, in Kalkutta aufgewachsen und Professor an der Universität Chicago, ist ein führender Theoretiker des Postkolonialismus. Sein in Deutschland am meisten beachtetes Werk ist "Europa als Provinz", dessen Übersetzung 2010 erschien. Es problematisiert eurozentrische Wahrnehmungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften.

Dipesh Chakrabarty ist ein prominenter Vertreter einer Geschichtsschreibung von unten, die die Perspektiven marginalisierter Bevölkerungsgruppen stark macht. Der Postkolonialismus brachte ins Bewusstsein, dass das Pochen auf einem zivilisatorischen Auftrag oder der Universalität der Menschenrechte nicht selten als ein Instrument der Machtausübung eingesetzt wird. Dagegen führte der Postkolonialismus an, dass es die eine, geeinte Menschheit als politische Kategorie nicht gebe, sondern lediglich sehr heterogene Gemeinschaften betrachtet werden könnten.

Die Diskussion, wie sich die Geschichtswissenschaft mit dem Klimawandel beschäftigen kann, initiierte Chakrabarty 2009 mit dem Aufsatz "The Climate of History: Four Theses". Den Postkolonialismus bringt das in eine kleine Bredouille: Die Entwicklung des Klimawandels betrifft unleugbar die Menschheit im Ganzen. Diese ist jedoch ein Objekt, das es für Chakrabarty als Postkolonialisten nicht geben kann. Daher ist an seinen Überlegungen spannend zu verfolgen, wie er versucht, eine auf Totalität gerichtete Forschungsperspektive mit seinem für Differenz sensibilisierten Blick zu versöhnen. "Die Klimawissenschaft lehrt uns, dass wir mit Totalitäten Frieden schließen müssen", sagt er.

Chakrabarty erwartet von der Hinwendung der Geisteswissenschaften zum Thema Klimawandel einiges: indirekt soll sie dazu beitragen, dass in der internationalen Diplomatie, die über Emissionsgrenzen verhandelt, die Stimme der Subalternen gehört wird und Klimapolitik so demokratisiert wird. Chakrabarty erhofft sich zudem Antworten auf drängende Fragen: Wie können die Menschen dazu gebracht werden, eine moralische Bindung zu großen, nicht-menschlichen Entitäten wie dem Planeten Erde herzustellen und sich nicht nur um die Zukunft des jeweils eigenen Freundes- und Familienkreises zu sorgen? Chakrabarty formuliert dazu nicht selbst umweltethische Maximen. Er will überhaupt erst als Soziologe herausfinden, was Gemeinschaften konkret daran hindert, sich global verantwortlich zu fühlen.

© SZ vom 26.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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