Geisteswissenschaften:Leben als Empfänger

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Nicht nur als Polemiker in ethischen Debatten, auch mit seinem Gesamtwerk ist der Philosoph Robert Spaemann ein Solitär. Nun wird er neunzig.

Von Thomas Meyer

Philosophie als der "vielleicht utopische Versuch, das Ganze zu denken", so ließe sich Robert Spaemanns umfassendes, im Laufe von siebzig Jahren entstandenes Werk mit seinen eigenen Worten charakterisieren. Welches Gewicht das einschränkende "vielleicht" gegenüber den Möglichkeitsspielräumen des Utopischen hat; warum es notwendig ist, den "Versuch" auf das "Ganze" zu unternehmen, will man das gute, zielgerichtete Leben denken, weil es vor dem "Zusammenbruch" bewahrt muss; welche Voraussetzungen bei einer solchen Bestimmung der Philosophie mit bedacht werden müssen - all diese Fragen und ihre Antworten machen aus dem Denker, Polemiker und gläubigen Zeitgenossen Spaemann eine solitäre Gestalt.

Spaemanns Hauptwerke "Glück und Wohlwollen" (1989) und "Personen" (1996) sind laut ihren Untertiteln solche "Versuche". Beide Bücher - Meisterwerke sprachlicher Klarheit wie auch immenser Verdichtung einer 2500-jährigen Tradition - zielen aufs "Ganze". Sie sind zunächst Beiträge zu einer Ethik, die sich nur entfalten lässt, weil sie auf einem Unveränderlichen aufruht, das sich dem Menschen als eine verstehbare Einheit von Glauben und Vernunft zeigt. Die Abwendung davon, sei es durch die Annahme eines unendlichen Fortschritts oder die Selbstüberschätzung des Menschen als universalem Schöpfer, führen für Spaemann in die Abgründe des Relativismus, dem es gelinge, jedes Handeln zu rechtfertigen. Und deshalb muss Ethik eingebettet sein in eine Metaphysik, die die Endlichkeit menschlicher Leistungen mit deren Herkunft verknüpfen kann, die im Unendlichen liegt. "Menschen haben ihr Leben, aber sie haben es nur als Empfänger, die nicht gefragt wurden."

Münster? Frankfurt? Er arbeitete früh schon auf eigene Rechnung

Dem ging eine Reihe von Untersuchungen voraus, die sich der Ablösung der Philosophie von ihrem angestammten Grundlegungsanspruch widmeten. Die Dissertation über den französischen Gegenaufklärer L. G. A. de Bonald (1952) wies ebenso wie die Habilitationsschrift über den Bischof Fénelon (1963) auf die Folgen eines Modernisierungsdruckes hin, den Spaemanns Protagonisten zu Soziologen oder mystischen Theologen werden ließen. Beide Studien waren in Münster bei Joachim Ritter entstanden und zeigen, dass weder die im Westfälischen betriebene Philosophie der Bürgerlichkeit noch die Aporien einer "Dialektik der Aufklärung" Frankfurter Provenienz in die Zukunft weisen oder einem verantwortungsbewussten historischen Bewusstsein Genüge tun. Spaemann arbeitete früh schon auf eigene Rechnung.

Seine Einsicht, dass der Nationalsozialismus als "revolutionäres Attentat auf eine von Athen und Jerusalem inspirierte, seit tausend Jahren sich entwickelnde Gesittung" verstanden werden müsse, verpflichtete Spaemann, die Haltung eines Ungeduldigen einzunehmen. Wenn immer sich menschliche Hybris auf Argumente berufen will, horcht er auf. Direkt, scharf, ohne Rücksichten aufs Gegenüber, nicht selten die Grenzen überschreitend, die noch ein Gespräch möglich gemacht hätten, vertritt der Philosoph, nicht minder der römische Katholik, seine Standpunkte um des Menschen willen, etwa in Debatten über Sterbehilfe, Abtreibung, Biotechnik. Dass diese Beiträge als "Verteidigung der Aufklärung gegen ihre Selbstdeutung" verstanden werden sollen, lässt sich nicht immer erschließen oder gar gutheißen. Im Gegenteil, manch grober Klotz sehnt sich regelrecht nach dem scharfen Keil.

Liest man hingegen einmal Spaemanns große Textsammlung "Grenzen" (2001) oder die als "Schritte über uns hinaus" publizierten "Gesammelten Aufsätze" von 2010/2011, gegen den Strich, dann wird eine erstaunliche Position sichtbar. Nämlich eine Versuchsanordnung, die einer mit leichter Hand behaupteten transzendentalen Obdachlosigkeit die Erinnerung an die menschliche Reflexionskraft und damit Veränderungsfähigkeit entgegensetzt. Spaemann lässt es auch hier bei Probebohrungen, die den Grund kennen, auf dem sie durchgeführt werden: Gott und Mensch, Natur und Naturrecht, Vernunft und Glaube. Doch diese Paarungen sind keinesfalls und schon gar nicht zu jeder Zeit unmittelbar als feste Koordinaten zu greifen. Sie bedürfen der ständigen Erschließung gegenüber einer Welt, die ihre eigenen Beschränkungen nur als Aufforderung zur Überschreitung zu begreifen scheint. Es wundert daher nicht, dass Spaemann von verschiedenen Seiten vereinnahmt wurde, mal "links", mal "rechts" auftauchte, er sich aber selbst immer auf der Suche nach dem "Richtigen" glaubte, auf dem mühsamen Weg der Selbstaufklärung.

Robert Spaemann, in Berlin geboren, hat zunächst in Stuttgart gelehrt, dann als Nachfolger Hans-Georg Gadamers in Heidelberg und schließlich von 1973 bis 1992 in München einem großen und vielschichtigem Schüler- und Kritikerkreis seine Einsichten vermittelt. An diesem Freitag wird er neunzig Jahre alt.

© SZ vom 05.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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