Geisteswissenschaften:Klassik und Krise

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Der Historiker Christian Meier untersucht immer die Spannung zwischen Möglichem und Unmöglichem - etwa beim Zusammenbruch der römischen Republik. Nun feiert er seinen 90. Geburtstag - und arbeitet weiter.

Von Stefan Rebenich

An diesem Samstag feiert der Historiker Christian Meier seinen 90. Geburtstag - in beneidenswerter intellektueller Frische. Bereits seine Habilitationsschrift "Res publica amissa", die 1966 erschien, ist ein Meilenstein der Forschung. Meier analysiert dort den Niedergang der römischen Republik als autonomen Prozess, in dessen Verlauf die Akteure, die die alte Ordnung keinesfalls beseitigen wollten, hilflos der Desintegration des politischen Systems gegenüberstanden. Meier hat die griffige Formel von der "Krise ohne Alternative" geprägt. Einer deterministischen Sicht der Geschichte hat er damit, wie ihm mancher Kritiker vorgehalten hat, nicht das Wort geredet, wohl aber die Erkenntnis vermittelt, dass historische Akteure, ja selbst der "allmächtige Diktator" Cäsar, bisweilen "alle Macht in den Verhältnissen", nicht aber "Macht über die Verhältnisse" haben.

Die traditionelle Althistorie ließ schon der junge Professor hinter sich. 1968 erhob Christian Meier, gerade nach Basel berufen, die Forderung, die Universität müsse eine kritische Funktion erfüllen - gegen links wie gegen rechts. Solche Aussagen quittierte eine konservative Zunft, die bis weit in die Sechzigerjahre in ihrer großen Mehrheit quellengesättigte Langeweile produzierte, mit dem absurden Vorwurf, er sei der Totengräber der Alten Geschichte. Meier ließ sich von solcher Polemik nicht beirren. Verletzungen gab es trotzdem; er spricht selten darüber und pflegt lieber das Bild des Außenseiters.

In Christian Meiers Biografie spiegeln sich die Zeitläufte der deutschen Geschichte. Geboren im pommerschen Stolp, aufgewachsen im Dritten Reich, studierte er Geschichte und Klassische Philologie zunächst in Rostock; dann flüchtete er aus der Sowjetzone und schrieb sich an der Universität Heidelberg ein, wo er 1956 promovierte. 1963 folgte die Habilitation in Frankfurt. Rufe führten ihn auf Lehrstühle in Basel, Köln, Bochum und schließlich München, wo er von 1981 bis 1997 wirkte, aber noch bis 2012 Vorlesungen hielt.

Christian Meier hat niemals nur die antiken Texte als Begleiter. Er liest Machiavelli und Nietzsche, Max Weber, Norbert Elias und Hannah Arendt, aber auch Arnold Gehlen und Carl Schmitt, zu dem er - wie einige Intellektuelle seiner Generation, darunter auch sein Freund Reinhart Koselleck - nach Plettenberg gepilgert ist. Schmitt schärfte seine Auffassung vom Staat und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Begriff des Politischen. Also faszinieren Meier die allgemeinen Bedingungen des Wandels, er macht sich auf die Suche nach Prozessen, Handlungsoptionen und gesellschaftlichen Entscheidungsspielräumen. Er beschreibt immer exakt die Spannung zwischen Möglichem und Unmöglichem.

Im Vergleich mit anderen Hochkulturen untersucht Meier die Spezifika der griechischen Polis-Kultur, besonders der demokratisch verfassten Stadt Athen. Die welthistorische Sonderrolle der Griechen sieht er durch die Eigenart ihrer Kulturbildung bedingt, die nicht um der Herrschaft, sondern um der Freiheit willen erfolgt sei. Die Griechen, so lautet eine seiner Thesen, bedurften der "Politischen Kunst der Tragödie", um in einer Zeit, in der man glaubte, die dem Menschen gesetzten Grenzen überschreiten zu können, neue Erfahrungen, Ängste und Konflikte zu bewältigen. Das gleichnamige Buch von 1988 wurde zur Pflichtlektüre an deutschen Theatern.

Christian Meier ist, wie er selbst sagt, ein Grenzgänger. Er gehörte der Gruppe "Theorie und Geschichte" und dem Arbeitskreis "Poetik und Hermeneutik" an. Und er ist ein politisch wachsamer Intellektueller, der immer wieder in aktuelle Debatten eingegriffen hat. Schon in Basel proklamierte er 1968: "Wenn Zeitgenossenschaft Verantwortung in sich birgt, so kann der Historiker davon nicht ausgeschlossen werden." Meier beschritt den Weg "Von Athen nach Auschwitz" (2002), schrieb über die Last der NS-Vergangenheit, die Wiedervereinigung, den Parlamentarismus und die schwierige Erinnerungspolitik. Von 1980 bis 1988 war er Vorsitzender des Verbands der Historiker Deutschlands; damals warb er für die Öffnung zur Globalgeschichte und mahnte zur Mäßigung in der heißen Phase des Historikerstreits über die Bewertung des Holocaust. Als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt stritt er aus Überzeugung und mit Lust gegen die vermurkste Rechtschreibreform.

Als glänzender Stilist hat Christian Meier immer eine breite Öffentlichkeit erreicht. Er lässt nie einen Zweifel daran, dass er in der historiografischen Synthese eine seiner vornehmsten Aufgaben sieht. Doch Geschichtsschreibung ist ihm stets mehr als entweder nur Erzählung oder die Mitteilung von Forschungsergebnissen, sie ist ihm Abbild eines Erkenntnisprozesses. Das Publikum soll Anteil daran nehmen, welche Gedanken sich der Historiker macht, ja welche Nöte er hat, um ein "Stück Geschichte" zu begreifen und darzustellen. Seine großen Werke, vielfach aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt, zeugen davon. Und er arbeitet weiter: Zurzeit schreibt Christian Meier an einer neuen Geschichte Griechenlands in klassischer Zeit.

© SZ vom 15.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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