Junge Geisteswissenschaftler stehen vor einem Problem: Sollen sie über den Kurznachrichtendienst Twitter oder über Blogs Fachdiskussionen führen? Oder ist es nicht nach wie vor viel publikumswirksamer und karriereförderlicher, die eigenen Ideen in Aufsätzen, am besten in renommierten Zeitschriften, zu publizieren, anstatt in Netzbeiträgen, von denen man nicht weiß, wie lange sie archiviert und zitierbar bleiben? Und ist all das nicht ohnehin Zeit- und Energieverschwendung, oder gar peinlich, wenn es am Ende für die akademische Laufbahn doch nur auf die klassische Monografie ankommt?
Unter der Überschrift "Kurz und gut!" - Hashtag: #kurzundgut - wurde jetzt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften darüber diskutiert. Die Konferenz fand statt im Rahmen des Jahresthemas "Sprache", in Zusammenarbeit mit der Freien Universität (FU) und der Humboldt-Universität.
360 Blogbeiträge ersetzen keine Dissertation, soviel ist klar. In absehbarer Zukunft könnten aber Blogs durchaus als wissenschaftliche Publikationen eigenen Rechts wahr- und ernstgenommen werden, sagte Dirk Naguschewski vom Berliner Zentrum für Literaturforschung in einer Gesprächsrunde. Vor allem aber könnten sie die Funktion erfüllen, den Prozess der geisteswissenschaftlichen Forschung selbst zu dokumentieren: Als öffentliche Skizzen- und Studienbücher, die den Weg von der Erstentdeckung einer Quelle über ihre editorische Erschließung bis hin zu ihrer interpretatorischen Auswertung nachvollziehbar machen. Im Netz erfährt man dann zugleich etwas über eine akademische Person, die neben ihrer Forschung auch über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen kommuniziert - Dinge, die auf einer klassischen Uni- oder Projekt-Homepage kaum einmal vorkommen.
Was für den einzelnen Forscher auch riskant sein mag - die Produktion eines virtuellen Alter Ego, das interessant ist, aber nicht blamabel - oder schlicht zu aufwendig, das scheint sich bei Institutionen und größeren Projekten zu bewähren: Ein gutes Beispiel ist das eben von Dirk Naguschewski betreute Blog, das die Forschungsschwerpunkte des Zentrums für Literaturforschung - etwa die Erschließung von Schriften des Religionsphilosophen Jacob Taubes - in kleineren Beiträgen beleuchtet, die zur Kommentierung freigestellt sind. Durch die redaktionelle Auswahl und Betreuung ähnelt dieses Blog schon eher einer digitalen Zeitschrift, die interdisziplinär ausgerichtet ist, aber vermutlich nicht weit über das jeweilige akademische Feld hinauswirkt.
Man kann das Bloggen aber auch einsetzen, um definierte Autor-Leser-Grenzen konsequent zu überschreiten - so macht es seit einiger Zeit die Zeitschrift Merkur. Deren Herausgeber Ekkehard Knörer erklärte bei der "Kurz und gut!"-Tagung, ein Blog sei mehr als bloß eine digitale Erweiterung einer Printausgabe: Da treten Autorinnen und Autoren auf, die sich an der Grenze zwischen akademischem und literarischem Schreiben bewegen (Hanna Engelmeier) oder aus universitär eher brachliegenden Feldern wie der Kultur- und Medientheorie des Rechts kommen (Fabian Steinhauer); kürzlich schrieben die Letztgenannten zusammen einen ebenso witzigen wie gelehrten Beitrag über die Zeugnisse zur juristischen Karriere des Soziologen Niklas Luhmann ("Fleiß und Fortbildungswille sind zu loben"). Außerdem gibt es Autoren im Merkur-Blog, die, mit dem Hammer philosophierend, in den politischen Gegenwartsdiskurs intervenieren (Danilo Scholz). Diese Texte sind nicht sehr kurz, aber extrem gut, weil sie netz- wie zeitungsförmige Lesegewohnheiten aufsprengen und Kommentare provozieren, die den öffentlichen Diskurs voranbringen.
Der Forscher im Netz kann sich blamieren - oder die Kunst der Knappheit üben
Während die Skepsis in der Germanistik zum Teil noch recht groß ist, werden Blogs in anderen geisteswissenschaftlichen Fachkulturen, etwa bei den Historikern, schon länger ernst genommen - das belegt, wie Mareike König vom Deutschen Historischen Institut Paris betonte, der Meta-Katalog hypotheses.org, der einen Überblick zu Blogs in verschiedenen Sprachen und Fachgebieten bietet.
Wie aber verhält es sich nun mit Twitter? Auf den ersten Blick wirkt der Diskurs, der dort von seriösen Wissenschaftlern produziert wird, natürlich etwas platt, mit all seinen trivialen Spontaneitäts- und Pathosformeln. Das gilt übrigens auch für viele Beiträge, die unter dem Hashtag #kurzundgut als Live-Kommentare zu der Berliner Tagung produziert wurden - wie sinnvoll ist es zum Beispiel, in Tweet-Form ("super Vortrag") zu klatschen?
Deutlich wurde auf diesem digitalen Forum der Tagung aber auch, dass es durchaus möglich ist, gute Thesen zur Wissenschaftskommunikation als Tweet zu formulieren, auch wenn sie wegen ihrer Kürze natürlich oft auslegungsbedürftig sind. So etwa die These von Mareike König: "Soziale Medien rütteln an den Grundfesten unserer Wissenschaftskultur. Hauptsächlich geht es um Stellen, Reputation und Fächergrenzen. Aber wartet, bis sich Code als Teil des wissenschaftlichen Diskurses durchsetzt."
214 Zeichen, 31 Likes, acht Retweets, drei Kommentare. Aber was, bitte schön, heißt hier "Code"? Der erste Kommentar: "Code ist so 2000er Jahre" ist zwar cool, hilft aber auch nicht weiter. Wahrscheinlich, denken wir uns, ist Code im Sinne von Pierre Bourdieus "Homo academicus" gemeint. Den haben wir aber schon so verinnerlicht, dass uns Professoren, die zu viel twittern, eher suspekt erscheinen. Also sollte sich der Code vielleicht eher ändern oder ein progressiverer Code durchsetzen? Ja, dann können wir das guten Gewissens liken ;)
Welche Risiken und Chancen die Kürze des Tweet-Formats (ob mit höchstens 140 oder 280 Zeichen) mit sich bringt, wurde vor allem bei einer Diskussion deutlich, die Nina Diezemann vom Exzellenzcluster Topoi moderierte. Einen wichtigen Input lieferte die Mitveranstalterin Maren Jäger vom Graduiertenkolleg "Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen" der Humboldt-Universität, das bei der Tagung mit vielen Doktoranden vertreten war, die sich rege beteiligten. In ihrem virtuosen Vortrag entwickelte Jäger eine Genealogie des twitterkompatiblen "Kiss"-Prinzips ("Keep it simple, stupid" bzw. "Keep it short and simple") aus dem Geist der antiken Rhetorik, insbesondere bei Cicero und Quintilian, die ihr Ideal der klaren Kürze ("dilucida brevitas") in doppelter Abgrenzung formulierten: von Langeweile erregender Weitschweifigkeit und von Dunkelheit produzierender Verkürzung.
Als archimedischer Punkt der rhetorischen Theoriebildung erweist sich dabei die Kategorie der Angemessenheit (lateinisch: das "aptum"), die sich in Abhängigkeit von Gegenstand, Publikum und Wirkungsabsicht definiert. Deren Bedeutung hat zuletzt Mirco Limpinsel in seiner germanistischen Dissertation "Angemessenheit und Unangemessenheit. Studien zu einem hermeneutischen Topos" von 2013 aufgezeigt. Neben seinen wissenschaftlichen Publikationen schreibt Limpinsel nur gelegentlich auf einem Blog über Spätburgunder Rotweine; sonst aber ist er in den sozialen Netzwerken eher unauffällig und gehört damit wahrscheinlich zu einer aussterbenden Spezies des Geisteswissenschaftlers.