Gedichtband:Frisst lästige Besucher auf

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Illustration aus Annie M. G. Schmidt: Ein Teich voll mit Tinte (Foto: Krause & Johansen; Verlag)

"Ein Teich voll mit Tinte" von der großen niederländischen Autorin Annie G. M. Schmidt ist voller frecher Verse, die von ungewöhnlich treffenden Illustrationen begleitet werden.

Von Nico Bleutge

Gibt es etwas Schöneres, als morgens aus dem Bad zu kommen, frisch geduscht, die Ohren noch feucht? Die Sonne scheint, und aus der Küche riecht es nach Kaffee und Brötchen. Seltsam nur, wenn auf einmal ein Hirsch durch die Wohnung läuft und es sich auch noch auf dem Kanapee gemütlich macht: "Er saß beim Radio, ganz still, / und ach, die arme Tante Lil / kam fürchterlich ins Schwitzen, / denn Fischbesteck und Zeterei / störn weder Hirsch noch sein Geweih."

Tante Lils frecher Hirsch ist nicht das einzige selbstbewusste Tier in Annie G. Schmidts Geschichtenbuch. Hier können Otter Fahrrad fahren und Kamele liegen mit im Ehebett. Und sollte einmal ein Besucher allzu anstrengend werden - einfach nach Karl-Klaus rufen: "Denn das Krokodil Karl-Klaus / frisst lästige Besucher auf, / schnapp und schnapp und happ und happ, mitsamt den Haaren drauf!"

Annie M. G. Schmidt, die von 1911 bis 1995 lebte, war eine der bekanntesten Kinderbuchautorinnen der Niederlande. Mehr als 100 Kinderbücher hat sie geschrieben, dazu Texte für die Bühne, das Radio und das Fernsehen. Wahrscheinlich müssen wir sie uns wie jenen "Märchenschreiber" vorstellen, den sie in einem Gedicht besungen hat. Dieser Märchenschreiber hat einen Teich im Garten, der ganz mit Tinte gefüllt ist: "Er schreibt Märchen von Rittern und Räubern und Dieben / von Viertel nach eins bis Viertel vor sieben. // Dann schläft er und früh, wenn noch Tau auf dem Gras, / schreibt er weiter. Schnell leert sich sein Tintenfass."

Wie man sieht, schrieb Annie G. M. Schmidt nicht einfach nur Märchen, aus ihrem Tintenteich zauberte sie ganze Gedichte hervor, voller Bilder, Klänge und Reime. Dabei muss es, zu unserem Leseglück, nicht immer sauber zugehen. Nicht nur, dass wir auf dreckige Wege und "Modderpfützen" stoßen. Auch die Reime sind manchmal wunderbar unsauber, ganz egal, ob sich das nun dem niederländischen Original verdankt oder zu den vielen schönen Ideen des Übersetzers Christian Golusda gehört. Hier reimt sich "feucht" auf "vielleicht", "Pol" auf "toll" oder "pssst" auf "ist". Manche Geschichten lesen sich wie ein auf den Kopf gestellter Struwwelpeter, als kleiner Einspruch gegen allzu rigide gesellschaftliche Vorstellungen (Annie M. G. Schmidt schrieb die Gedichte Ende der 70er-Jahre). In diesem Buch igelt sich keiner in den eigenen vier Wänden ein, sondern man geht auf Reisen, entdeckt andere Länder und Menschen, ja, sogar Elfen schweben durch die Verse.

Sieb Posthuma hat die Reimgeschichten mit schönen Zeichnungen versehen. Er schreibt die Märchen auf seine Weise fort, indem er sie in Bilder übersetzt und Ideen dazu erfindet. Besonders raffiniert sind die Tintenkleckse, die er gleich auf der ersten Seite hinterlässt - und die sich wie ein Leitmotiv durch das Buch ziehen, hier verwandelt in Blätter, dort in Pusteblumen. Tante Lil hätten sie bestimmt gefallen. Sie verliebt sich in alles, sogar in ihren Besucher: "War eben noch der Hirsch verpönt, / sie hat sich rasch an ihn gewöhnt, / jetzt kann sie nicht mehr ohne ihn."

Annie M. G. Schmidt : Ein Teich voll mit Tinte. Reimgeschichten. Mit Illustrationen von Sieb Posthuma. Aus dem Niederländischen von Christian Golusda. Moritz 2016. 54 Seiten, 15,95 Euro.

© SZ vom 30.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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