Gedicht und Umwelt:Zusammenzählen, was nicht da ist

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Mirko Bonné: Wimpern und Asche. Gedichte. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018. 145 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

"Fliegt, ihr Biester!": Der Dichter und Romanautor Mirko Bonné holt in seinem neuen Lyrikband "Wimpern und Asche" den Plastikmüll und die Zerstörung der Umwelt in die Sprache der Poesie.

Von Helmut Böttiger

Vielleicht ist die Lyrik doch, trotz aller Einhegungsversuche, das Unsichere und Flüchtige schlechthin. Sie bewegt sich am liebsten jenseits der Sprachapparate. Mirko Bonnés neuer Gedichtband spielt mit den Assoziationsfeldern zweier Wörter, die sofort in etwas Offenes führen: "Wimpern und Asche". Nicht nur der Titel des gesamten Buches lautet so, sondern auch ein als einzelnes Kapitel hervorgehobenes Langedicht. Es ist eine Art Sprechgesang, knüpft sehnsüchtig und ironisch an die Tradition des Epos an und verhandelt dabei radikal die Gegenwart.

Mit langem geschichtlichen Atem wird zunächst ein Gewässer beschworen, Hamburgs Binnen- und Außenalster. Doch allmählich verwandelt sich der Text in eine rhythmisch aufgeladene Aufzählung all dessen, was mittlerweile an Kunststoffen in den Weltmeeren versammelt ist - eine Plastikmüll-Elegie. Und hier sind "Wimpern" und "Asche" untrennbar miteinander verbunden, Objekte, die eigentlich extrem entgegengesetzten Bereichen zugehörig sind - die leichten, sensiblen, sich ständig erneuernden und die Gesichtszüge ästhetisch markierenden Wimpern, aber auch die leichte, abgestorbene, übriggebliebene Asche.

Die kleinen, nahezu unsichtbaren Plastikteilchen, die sich inzwischen sogar in der Tiefsee finden, können für beides stehen: Wimpern oder Asche, und aus diesem zentralen Bild heraus entwickelt sich ein poetologisches Programm. Eine Passage aus diesem Gedicht greift der Autor heraus und stellt sie noch einmal, kursiv gedruckt, als lyrisches Credo an das Ende seines Bandes: "Ich zähle alles, was da ist, zusammen / und komme auf nichts. Ich zähle und / zähle Asche, zähle Wimpern, Blicke, / Boote, Möwen, und ich komme auf nichts.// Fliegt, ihr Biester! Segelt ihnen nach, / Nussschalen. Ich blicke übers Meer, / streue Wimpern, streue Asche, zähle, / zähle, was nicht da ist, zusammen."

Es handelt sich unverkennbar um ein zeitgenössisches Lebensgefühl: "Ich zähle alles, was da ist, zusammen / und komme auf nichts". Es gibt kaum etwas, an das man sich halten könnte. Je mehr Möglichkeiten auftauchen, desto schneller verschwinden sie auch. In einer paradoxen Umkehr zieht das Gedicht jedoch daraus Gewinn: "Ich zähle, was nicht da ist, zusammen." Das alte Motiv einer ästhetischen Gegenwelt erscheint, und es ist klar, dass dabei immer auch die Vergeblichkeit mitschwingt. Als Antwort bleibt etwas Fragiles, Widersprüchliches, aber auch erstaunlich Beharrliches. Der Dichter benennt weiter und hält fest.

Die Sprache Bonnés ist manchmal spröde, in diversen Gelegenheitsgedichten und Reiseskizzen oft auch nah an der Prosa, referierend, alltagsdurchdrungen. Einflüsse amerikanischer, nüchtern registrierender und doch das Magische streifender Dichter wie Charles Simic oder John Ashbery lassen sich erkennen. Sehnsucht oder Melancholie, Stimmungen also, die in Gedichten nur aus der Distanz heraus wirken können, sind bei Bonné oft mit Humor gekoppelt. Er zitiert sie im Bewusstsein der Gegenwart, und dadurch entsteht etwas Kaleidoskopartiges, das so manche vorläufigen Übereinkünfte außer Kraft setzt.

Dieser Lyriker hat nichts Akademisches. Umso auffälliger sind seine vielen Ausflüge in die Literaturgeschichte - Erinnerungen an die Schreibhaltung und die existenziellen Voraussetzungen früherer Dichter. "An einem grauen Stuttgarter Mittag" beispielsweise, am starkbefahrenen Olgaeck mitten in der autogerechten Stadt der sechziger Jahre, überfällt ihn plötzlich eine schwäbische Vision in Form von Schiller oder Hölderlin, "die blonde Mähne bis sonstwo". Und er reflektiert darüber, dass "das Grau oben am Himmel" damals dasselbe war. In einem kurzen, bestimmten Moment gerät die sich absolut setzende Gegenwart außer Kontrolle, und etwas Neues stellt sich ein: "Die Zärtlichkeit, / die fehlt, bis du sie spürst, bis du / spürst, du lebst, sie war dieselbe, / die Abgestorbenheit ist nur Gerede."

Diese Rückversicherungen durch literarische Vorläufer sind charakteristisch für Bonné. Er ist neben seinen eigenen Texten bereits als Übersetzer aus dem Angelsächsischen hervorgetreten, und als virtuoser Stimmenimitator zeigt er sich auch in etlichen seiner neuen Gedichte. "Tränenturm", eine Hölderlin-Imagination, versetzt sich in die brennende Sprache des dichtenden Revolutionärs, der im Tübinger Turm festsitzt, und es gibt auch eine völlig anders gelagerte Faulkner-Maskerade, Shakespeare-Adaptionen oder ein biografisches Augenzwinkern mit Apollinaire. Und es findet sich sogar ein Songtext im Stil von Peter Gabriel, der von innen her aufgeraut und mit allen nötigen Indikatoren der Ironie ausgestattet wird.

Die Spiele des Dichters mit der Vergänglichkeit sind geprägt von der Zerstörung der Umwelt

Dies gehört zuverlässig zu den Merkmalen und Stützen von Bonnés Zeitbefragungen, den Brechungen allzu eindeutiger Befindlichkeiten und Theorien. Dem entsprechen auch Erkenntnisse wie jene, dass "Plastik" bei Novalis ein rein ästhetischer Begriff war, jetzt aber die Weltmeere verseucht. Die Natur ist für Bonné immer noch ein zentrales poetisches Sujet. Er improvisiert gern mit alten Mustern der Landschaftslyrik. Tiere, vor allem Vögel, spielen eine große Rolle, und manchmal schieben sich durch Technik und Bewusstsein geprägte Wahrnehmungsmuster auf überraschende Weise in romantisch angelegte Bilder: "Blumen, die aussahen, als fotografierten sie das Gras."

Die Spiele des Dichters mit Vergänglichkeit und Sehnsucht sind von der Zerstörung der Umwelt gezeichnet, von den verheerenden Auswirkungen der kapitalistischen Zivilisation. An einem leeren walisischen Strand stößt die lyrische Stimme auf verlassene Spielhallen und Spaßbuden, eine "Wirklichkeit", "offshore eingespeist in ein von jeher erloschenes Netz". Die letzten beiden Zeilen des betreffendes Gedichts lauten "Untergangsunter-/haltung". Dass sich der zeitgenössische Lyriker zwangsläufig mit solchen Vorgaben konfrontiert sieht, die er nicht ausschalten kann, scheint in diesem Wort zu kulminieren. Es ist aber nicht das letzte.

In dem Stuttgarter Hotel, in dem durchreisende Schriftsteller untergebracht werden, wohnte Bonné offenkundig einmal im siebten Stock, ein paar Seiten weiter führt der "siebte Stock" zu einem lyrischen Selbstbild in New York. So stellen sich Bezüge her, die der vorgefundenen Wirklichkeit etwas entgegensetzen, ohne unwirklich zu sein. Selbst dem "Mauerseglerhitze" im November, dem viel zu warmen Spätherbst, kann ein "lindes Pulsen der Luft" abgewonnen werden. Das wirkt wie ein Gegengift. Die Sinnlichkeit dieser Gedichte entfaltet sich durch Wahrnehmung und Beobachtung.

Der Lyriker Mirko Bonné verhandelt seine Subjektivität immer mit. Sie zweifelt an sich und fragt, hier wird nicht von außen ein Mischpult bedient. Unsicher und flüchtig, so ist dieses Ich, doch es bewegt sich umso bewusster im "Licht", einem häufig wiederkehrenden Motiv in diesem Band. Es kommt darauf an, wie man etwas sieht, selbst an einem verregneten Morgen in Melbourne: "Sie ist ein Regen, / die Welt, und liebt die fünf Sinne. Über-/schwemmt dich. Ist zartfühlend, ist schroff / oder Buschfeuer."

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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