Seit dem großem Wurf einer unter seiner Herausgeberschaft erstmals 1977 erschienenen, mehr als tausendseitigen Anthologie deutschsprachiger Lyrik ist der Name "Conrady" zu einem Markenzeichen mit Anwartschaft beinahe auf die Ewigkeit geworden. Zum Glück nur "beinahe", denn am heftigsten würde jenem Befund wohl der gleichnamige Literaturwissenschaftler und emsige Erforscher des Lebens und Werks eines anderen vermeintlich "Ewigen" - nämlich Goethes - widersprechen: "Das große deutsche Gedichtbuch" das Karl Otto Conrady und der Verlag Athenäum damals in die Welt gesetzt haben, war weder ein Kanon deutscher Dichtung noch ein beschauliches Hausbuch.
Der in der deutschen Literatur ebenso wie in ihrer germanistischen Wissenschaft lange Zeit waltenden "Herrschaft verklärter Gemüthaftigkeit" - auch "Deutschkunde" genannt oder als ewige Suche danach begriffen, "was deutsch sei, was das Wesen des Deutschen ausmache" - hatten Conrady und seine Mitstreiter Eberhard Lämmert, Walter Killy und Peter von Polenz schon Mitte der Sechzigerjahre die gebotene Absage erteilt: Mit dem berühmt gewordenen Suhrkamp-Bändchen "Germanistik - eine deutsche Wissenschaft" gaben sie den entscheidenden Anstoß zur Aufklärung des Fachs über sich selbst und über seine Verstrickungen in der damals noch jüngsten Vergangenheit. Näher lag danach also schon, was der große Verseschmied Peter Rühmkorf zum Erscheinen von Conradys großem Gedichtbuch 1977 schrieb, es sei "eine Wundertüte deutscher Poesie".
Und eine solche blieb es auch in allen Derivaten - einem "Kleinen Conrady" (2008) und einem gigantischen "Hör-Conrady" auf 21 CD's - und Mutationen zum "Neuen Conrady" (2000) und schließlich zum "Großen Conrady" (2008). Von ihm hat sich die - nach Übernahme des Verlags Artemis & Winkler - neue Verlagsgruppe, die laut ihrer Website keine Verlage mehr, sondern "Marken" führt, und keine Bücher mehr, sondern "Produkte" vertreibt, unterdessen leider verabschiedet.
Seit Beginn der Sechziger besorgte oder betreute Hans Otto Conrady - nach Professuren in Saarbrücken und Kiel Lehrstuhlinhaber in Köln (und nebenberuflicher Parlamentarier) - beinahe ein Bändchen nach dem anderen für die legendären Reihen von "Rowohlts Klassikern" und "rowohlts deutscher enzyklopädie", sein Beitrag zur damaligen "Bildungsoffensive".
1945, als der noch 1944 zur Wehrmacht Einberufene aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, hatte der gebürtige Westfale noch einmal bei Null angefangen. Dazu gehörte die ihn wohl noch heute quälende Auseinandersetzung mit seiner vormaligen Rolle als "Jungstammführer" in der Hitlerjugend. Anders als andere Prominente, die ihre einstige HJ-Begeisterung auf Sportsgeist und ihre Abenteuerlust zurückführten, empfand Conrady - wie er noch vor wenigen Jahren schrieb - diese Rolle als bei weitem beschämender als die obendrein erworbene "Karteimitgliedschaft" des Siebzehn- oder Achtzehnjährigen in der NSDAP.
Am Sonntag feiert Hans Otto Conrady, einer der großen Germanisten der Bundesrepublik, seinen 90. Geburtstag.