Gary Shteyngarts neuer Roman "Landpartie":Im Bauch des Murmeltiers

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Als sich New York im Frühjahr 2020 fest im Griff des Virus befindet, gerät Gary Shteyngarts Hauptfigur in eine Komödie, die ihn aufs Land entführt: Medizinschiff auf dem Hudson River am 30. März 2020. (Foto: Bryan R. Smith/AFP)

Gary Shteyngart erzählt in seinem neuen Roman "Landpartie" mit eindrucksvoll leichter Hand von den Dämonen, die das nicht gelebte Leben schickt.

Von Lothar Müller

Was macht die leichte Muse mit schweren Stoffen? Sie macht sie leicht. Vinod Mehta, Immigrant aus Indien, hat erst einen Lungenflügel an den Krebs verloren und dann seinen Job als außerordentlicher Professor an einem College in New York. Inzwischen arbeitet er als Koch in einem Schnellrestaurant in Queens. Er hat aber Glück. Als im Frühjahr 2020 das Virus die Stadt im Griff hat und hinter seinem örtlichen Krankenhaus Kühllaster mit den Leichen der Verstorbenen geparkt sind, gerät er in eine Komödie, die ihn aufs Land entführt. Sein alter College-Freund Sasha Senderovsky und dessen Frau haben ihn in einen der Bungalows auf ihrem Anwesen eingeladen. Die Komödie - vielleicht ist es auch die erste Staffel einer TV-Sitcom - trägt eine Maske. Sie sieht aus wie ein Corona-Roman.

Der amerikanische Schriftsteller Gary Shteyngart, 1972 als Sohn einer jüdischen Familie in St. Petersburg geboren, das damals noch Leningrad hieß, war noch jung, als seine Eltern die Sowjetunion verließen. Die Welt der russischen Immigranten ist in seinen Büchern allgegenwärtig. Schon sein Debüt, das "Handbuch für den russischen Debütanten" (2002), war ein großer Erfolg. Eine seiner Spezialdisziplinen, nicht nur in dem Memoir "Little Failure" ("Kleiner Versager"), ist die Selbstparodie. In diese Kategorie gehört auch Alexander "Sasha" Senderovsky, Schriftsteller und Drehbuchautor, exakt so alt wie sein Erfinder, gutem Essen und gutem Wein nicht abgeneigt. Er ist der Gastgeber im neuen Roman "Landpartie", der im Original "Our Country Friends" heißt.

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Die beiläufigen Pointen gelingen hier mindestens so gut wie die plakativen

Die Freunde, denen er in seinem Anwesen auf einem Hügel irgendwo in der Nähe des Hudson Zuflucht vor dem Virus bietet, sind fast alle Immigranten wie er und seine Frau Masha. Aber sie stammen nicht aus Russland. Ed, mit vollem Namen Edward Sungjoon Kim, Spross einer reichen Dynastie von Geschäftsleuten, Kosmopolit, Dandy und exzellenter Koch, ist 1975 in Seoul geboren. Auch Karen Cho, Softwareentwicklerin im Silicon Valley und Erfinderin einer spektakulär erfolgreichen Dating-App, hat einen koreanischen Migrationshintergrund. "Ich schätze, ich bin die einzige richtige Weißbacke hier", sagt Dee Cameron. Sie kommt aus den Südstaaten, aus Georgia, und ist als Studentin in einem der Schreibkurse von Sasha Senderovsky einzige Repräsentantin der jüngeren Generation. Inzwischen ist sie Autorin einer erfolgreichen Essaysammlung.

Ihr Name ist einer der plakativen Scherze, die Senderovsky so wenig scheut wie sein Autor. Aber mit Boccaccios "Decamerone", dem Urbild aller Landpartien in Seuchenzeiten, hat Shteyngarts Roman wenig am Hut. Er versammelt seine Akteure nicht, um sie von der Liebe und anderen Missgeschicken erzählen zu lassen, er verstrickt sie selbst in erotische Abenteuer und in ihre eigene Vergangenheit. Für die Abenteuer greift er auf den Theaterfundus zurück. Karens Dating-App "Tröö Emotions" ist eine moderne Wiedergängerin der Zaubertränke und Feenberührungen, die in alten Mittsommernachtsträumen Liebesrasereien bewirkten. Kaum ist der Stargast in der kleinen Kolonie eingetroffen, der Schauspieler, dem die gesamte Nation - darunter Senderovskys Frau Masha - zu Füßen liegt, verkuppelt ihn die App mit Dee Cameron. Auch der Stargast gehört nicht zu den "Weißbacken": "Wie ich höre, sind Sie zur Hälfte Ire, aber auch zu einem Viertel Türke?"

Die Seuche aussitzen: Satiriker Gary Shteyngart versammelt in seinem aktuellen Roman illustre Gestalten in einer Villa. Es ist Frühjahr 2020, sie werden länger bleiben, als gedacht. (Foto: Brigitte Lacombe/Randomhouse)

Die Tochter der Senderovskys, die achtjährige Natasha, genannt Nat, komplettiert das Immigranten-Tableau. Sie ist eine der hochbegabten Nervensägen, die zu Komödien in urbanen Intellektuellenmilieus gehören, schwärmt für eine koreanische Boyband, ist aber ein Adoptivkind eher chinesischer Herkunft. In einer der beiläufigen Pointen, die Shteyngart mindestens so gut gelingen wie die plakativen, spielt sie mit sich selbst "eine Einzelkindversion von Verstecken".

Dem Übersetzer Nikolaus Stingl ist es zu verdanken, dass Shteyngarts leichter Ton samt aufgefächertem Pointenregister im Deutschen erhalten bleibt. Und das Spiel mit der russischen Literatur, vor allem mit den Erzählungen und Schauspielen von Anton Tschechow. Bei Tschechow sind die Grundbesitzer notorisch von Verarmung bedroht oder haben sie bereits hinter sich. Senderovsky kämpft zunehmend verzweifelt gegen die Erosion seiner Geschäfte, der Schauspieler ist nur eingeladen, weil an ihm die schwindende Hoffnung hängt, aus den Drehbüchern des Schriftstellers könne doch noch eine Fernsehserie werden.

Gary Shteyngart: Landpartie. Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Penguin Verlag, München 2022. 488 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Zur Tschechow-Karaoke trägt eine vom Schauspieler inszenierte "Onkel Wanja"-Aufführung bei, aber die "Szenen aus dem Landleben" bringen zwar Spiegeleffekte zwischen den Darstellern und ihren Rollen hervor, aber den Gutsbesitzer nicht voran. Seine Hoffnung stirbt in Sätzen, in denen Stingl deutsche Tschechow-Übersetzungen anklingen lässt: "Er konnte sich ausmalen, wie er die besten Zeilen aus seiner Vergangenheit abschrieb, seine Jugend wiederkäute, nun da die Zukunft nichts als das langsame, stumpfsinnige Ticken eines Metronoms auf dem Steinway war."

Sein Name fällt nie, aber dass Trump noch Präsident ist, gehört zu den Hintergrundvoraussetzungen des Romans

In den Episoden, die er dem Schauspieler spendiert, nachdem die Illusion der App-gestützten Liebe verflogen ist, verheddert sich Shteyngart ein wenig. Vielleicht, weil er dieser Figur deutlich weniger Vergangenheit mitgegeben hat als den alten College-Freunden. Sie sind zwar alle wegen des Virus auf dem Lande, und am Ende sehen die Gastgeber hinter ihren Plastikvisieren aus "wie zwei Teilnehmer eines Schweißerkongresses". Aber hinter der Maske des Corona-Romans frönt Shteyngart seiner alten Leidenschaft, der komischen, manchmal tragikomischen Darstellung der Vereinigten Staaten aus der Sicht der Immigranten. Diesmal sind allerdings nicht die Russen in der Mehrzahl.

Karen, Inbegriff einer koreanischen Leistungsaufsteigerin, muss sich des Vorwurfs erwehren, sie gehöre trotz ihrer Herkunft zu den "Karen-Women", dem jüngst erfundenen Label für typische Mehrheitsamerikanerinnen. Aber wenn sie mit Nat, der ziemlich asiatisch aussehenden Nervensäge, in der viele traurige Melodien stecken, auf den Straßen um das Landhaus unterwegs ist, werden die beiden von einem SUV aufs Korn genommen und fast angefahren. Es kann in Corona-Zeiten gefährlich sein, asiatisch auszusehen.

Nie fällt der Name des Präsidenten, aber dass Trump noch im Weißen Haus sitzt, gehört zu den Hintergrundvoraussetzungen des Romans: Der Tod von George Floyd, die Treuebekundungen zum Präsidenten und zur Polizei in der Nachbarschaft, die Aufkleber auf den Hecks der Pick-ups, der Shitstorm, der Dee Cameron erfasst, als in einem ihrer Essays Spurenelemente von Rassismus entdeckt werden, die dunklen SUVs auf der Kiesauffahrt zum Landhaus, all das öffnet den Rückzugsort der "Country Friends" und Virus-Flüchtlinge auf die Außenwelt hin. Debatten über die Gesundheitspolitik und Virus-Fachsimpeleien gibt es nicht.

Wie Tschechows "Onkel Wanja" ist Shteyngarts Roman in vier Akte eingeteilt, an Dialogen mangelt es nicht, vielleicht schafft er es, anders als Senderovskys Drehbücher, zur TV-Serie zu werden. Was er vor allem in die Waagschale werfen kann: die leichthändige Mimikry eines Grundmotivs der Tschechow-Welt, der Dämonen, die aus dem nicht gelebten Leben hervorgehen.

Wenn er die Südstaatlerin Dee Cameron nach ihrer Eskapade mit dem Schauspieler umstandslos dem kosmopolitischen Ed zuführt (er verfügt über ein grandioses Vitello-Tonnato-Rezept), gehört das noch zur burlesken erotischen Komödie. Wenn aber die Softwarespezialistin Karen zum indischen Ex-Professor Vinod findet, hat die Dating-App längst ausgespielt. Die gemeinsame Vergangenheit reklamiert ihr melodramatisches Recht.

Überhaupt laufen in Vinod, dem hinfälligen Schnellkoch mit Patientenverfügung im Gepäck, die Fäden des nicht gelebten Lebens zusammen. Hartnäckig nährt Shteyngart den Verdacht, dass Vinod ein bedeutender Schriftsteller hätte werden können, hätte sein Jugendmanuskript den Weg in einen Verlag gefunden. Warum es stattdessen erst in einer Schuhschachtel und dann im Bau des Murmeltiers Steve landet, gehört jedoch - wie die von Vinod Mehta selbst - zu den gar nicht so lustigen Geschichten dieses mit leichter Hand geschriebenen Romans.

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