Für junge Erwachsene:Die verkauften Kinder

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Christian Duda: Milchgesicht. Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2020. 154 Seiten, 13,95 Euro. (Foto: N/A)

Der Autor erzählt die Lebensgeschichte seiner Großmutter und eines unerwünschten Jungen, die um 1900 in einem Dorf am Semmering lebten. Und zeigt, welches Elend noch vor ein bis zwei Generationen herrschte.

Von Sybil Gräfin Schönfeldt

Was weiß ein Kind wirklich von seinem Großvater und seinem Urgroßvater? Könnte es sich überhaupt eine Welt vorstellen, in der es kein Digitales gibt, kein Internet? In der in der Küche ein Feuer im Herd angezündet worden ist, die Kinder mit den Erwachsenen oder alle Geschwister zusammen in einem Bett schlafen, auf einem Strohsack? Ohne Wegwerfwindeln, Papiertaschentücher und Pappbecher to go. In der es noch keine Pflegeversicherung gab, sondern die Fürsorge für die ganz Jungen und die ganz Alten und die unheilbar Siechen bei der Familie lag. Und wenn keiner da war, bei der Gemeinde. Hatten Großmütter und Urgroßmütter überhaupt Wörter, um diese ungeheure Distanz zwischen heute und damals darzustellen? Es blieb oft und immer wieder beim: "Das weiß ich nicht mehr. Das hab ich vergessen."

Wer leben und nicht verkommen wollte, konnte sich kein Erbarmen keine Kindheit leisten

Einer gab sich nicht damit zufrieden. Christian Duda, "Autor, Regisseur, Vater im Ruhestand", wie er sich selbst bezeichnet, wuchs bei der Oma in Österreich auf. "Sie war meine Heimat - Doch sie starb viel zu früh", und der Enkel kam zu den Eltern nach Deutschland, verließ jedoch mit 18 Jahren die Familie. Noch mehr Zeit verging, ehe er sich auf die Suche nach der Lebensgeschichte dieser Großmutter machte und merkte, wie wenig er über sie wusste. "Und die Verwandten schwiegen."

Es war die Küchenschublade, die ihm half. Die Großmutter hatte alles hineingestopft, was ihr wichtig erschien, persönliche Papiere, Briefe, Zeitungsausschnitte, Gebrauchsanweisungen, Reklamezettel. Das verlockte den Enkel, er begann die Schnipsel so gut zu ergänzen, wie es möglich war, und wenn die Lücken in den Unterlagen zu groß waren, vertraute er sich der Fantasie an und entwarf sich auch einen Schreibstil, wie es ihm diese Arbeit befahl. Kein festgefügter Erzählblock, sondern Augenblicke, kurze Texte, schockierende Bilder, Sätze, nur, knapp, streng, als ob sich die Sprache sträubte, sich weigerte, ihm Wörter für das zu liefern, was damals, um 1900, in Österreich, in der Arbeitersiedlung am Semmering, wo eine kühne Bergbahnlinie gebaut wurde, und in vielen anderen armen Dörfern, Bergdörfern, mit den Kindern und den sozial Schwachen geschah: Wer leben und nicht verkommen wollte, konnte sich kein Erbarmen, keine Kindheit leisten.

Duda erzählt von zwei Kindern, von dem Mädchen, das die Älteste von viel zu vielen Geschwistern war, als das Kind zwölf Jahre alt war, geht der Vater zu einem der reichen Bauern im Dorf, führt ihm das Kind vor und preist es an, wie gut es den Haushalt führen kann, für die Geschwister gesorgt hat, wie stark und gesund es ist. So verkauft er es dem Bauern. Das war damals üblich und in diesem Fall bekam das Kind, das Dudas Großmutter wurde, wenigstens genug zu essen.

Wenn man an die Gesetze denkt, die damals unausgesprochen in Dörfern herrschten, hatte auch der Junge, von dem Christian Duda erzählt, das, was für ihn Glück war. Er war krank von Geburt auf, vertrug kein Licht, keine Sonne, schrie statt zu sprechen und wurde einer Tante, einer alten Jungfer zur Pflege und Aufzucht gegeben, blieb immer für sich, und weil sich die Lehrerin weigerte, ihn zu unterrichten, brachte er sich selber das Lesen und das Schreiben bei. Als man ihn einmal als Milchgesicht verspottet, war und blieb er der Sepp, der Dorftrottel, Ergebnis von Inzucht und Ignoranz. Das Glück bei der Tante fand jedoch ein Ende, als sie als Engelmacherin verraten wurde, die das abzutreiben versuchte, was das Produkt der Übergriffe von Männern war, die die Frauen ihres Haushaltes als Besitz betrachteten und Vergewaltigungen als ihr gutes Recht. Um die Folgen scherten sie sich einen Teufel, erst recht nicht, wenn dabei jemand entstand wie der Sepp. Seine Spur verlor sich, Christian Duda lässt ihn bei einem Arzt enden, der bei einem Ungebärdigen, Aufsässigen, ohne Familie und Hilfe, durch einen operativen Eingriff ins Gehirn für Ruhe sorgte.

Christian Duda entwirft Bilder und Szenen, die man nicht vergisst. Er erhebt nicht den Zeigefinger, er bauscht nichts auf, er bleibt bei dem, was er kennt, erwähnt mit keinem Wort die "armen, armen Kinder", wie Astrid Lindgren sie nannte, die armen Kinder der Welt. Er zeigt, wie es eben noch bei uns gewesen ist, vor einer oder zwei Generationen, und wie gut es Kinder haben, die heute hier am rechten Ort geboren wurden. In eine Welt der Sozialhilfe und des Kinderschutzbundes, aber auch den Medien ausgelieferten Song-Kids. Es ist gut, wenn jemand von den verkauften Kindern erzählt, als das Wort Armut etwas ganz anderes bedeutete als heute. Zu diesem Wort aber gehören andere, Verantwortung und Erbarmen. Gut, dass jemand die Kinder daran erinnert. (Für junge Erwachsene)

© SZ vom 22.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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