Friedrich Schleiermacher:Zwischen Predigt und Tat

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Friedrich Schleiermacher, 1768 in Breslau geboren, starb 1834 in Berlin. Er wirkte als Pfarrer, Theologe, Autor, Übersetzer, akademischer Lehrer, trieb Wissenschafts- und Kirchenpolitik. (Foto: imago/Leemage)

Der Theologe, romantische Autor und Bildungsreformer Friedrich Schleiermacher in brisanter Zeit: Der vierte Band seiner Briefe von 1813 bis 1816 zeigt ihn während der Befreiungskriege.

Von Jens Grandt

Kommt einem heutzutage der Name Friedrich Schleiermacher in den Sinn, fällt die Klappe wie ein alter Sargdeckel: der Theologe, der Religion auf das Gefühl der Abhängigkeit von Gott zurückgeführt hat, ein Bahnbrecher des modernen Protestantismus. Aber das Schaffen und Wirken des Feldpredigersohns war so vielseitig, dass es mannigfaltige Deutungen zulässt. Er war nicht nur Seelsorger an der berühmten Berliner Dreifaltigkeitskirche, er war auch Philosoph, romantischer Autor und Ästhetiker, Platon-Übersetzer, Bildungsreformer und nicht zuletzt Praktiker des realen, auch politischen Lebens.

Diese Vielfalt ist wohl einer der Gründe, weshalb es immer noch keine gültige Biografie gibt. Erst anderthalb Jahrhunderte nach Wilhelm Diltey (1870) hat der Kirchenhistoriker, Kurt Nowak, den höchst verdienstvollen Versuch gewagt, aus aktueller Sicht den "riesigen Stoff" zu erfassen ( "Schleiermacher", Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2001). "Schleiermacher steht für eine Vielzahl von Wirkungsgeschichten", schreibt Nowak.

Andererseits sind in der großen Kritischen Gesamtausgabe noch nicht alle Schriften, Predigten, Vorlesungen veröffentlicht. Auch noch nicht alle Briefe. Jetzt liegt im Rahmen des Akademievorhabens "Schleiermacher in Berlin" der vierte Briefband vor: 1813 bis 1816.

Eine hoch brisante Zeit. Die Heere Preußens, die nach langem Schwanken Kaiser Wilhelms III. mit Russland eine Allianz eingegangen waren, und Napoleons Grand Armée standen zu Beginn des Jahres 1813 im Patt. Der mit großen Hoffnungen auf die Etablierung einer fortschrittlichen liberalen Ordnung verbundene Befreiungskrieg stockte. Ein Waffenstillstand wurde vereinbart. In diese Monate fallen und aus dieser Situation erklären sich die ersten Briefe des Bandes.

Als verantwortlicher Redakteur des Preußischen Correspondenten bekam er Ärger mit der Zensur

Die Frustration über die Einigung mit Napoleon war allgemein. "Kommt ein Friede zu Stande ... bleibt mir nichts übrig, als auf unbestimmte Zeit Deutschland Lebewohl zu sagen", schreibt der befreundete Schriftsteller August Wilhelm Schlegel. Dass Schleiermacher gegen den Waffenstillstand ist, überrascht nicht, hatte er sich doch schon 1808/09 in konspirativer Mission für die Reformpartei um Gneisenau und Scharnhorst eingesetzt, die einen Aufstand vorbereiten sollte. Jetzt feiert er von der Kanzel den Seitenwechsel General York von Wartenburgs, predigt für die "Rückkehr zur Wahrheit", wirbt in Berlin junge Leute für die Landwehr und soll, wie kolportiert wird, selbst fleißig exerziert haben.

Die patriotischen Kräfte befürchteten, dass der Scheinfriede zum Dauerzustand wird. Was dem Feudaladel durchaus recht gewesen wäre, denn die Angst vor der umfassenden Bewaffnung der Bürger, die in eine Revolution münden könnte - der Umsturz in Paris lag nur fünfzehn Jahre zurück -, veranlasste die monarchistische Kamarilla, jegliche Selbstermächtigung zu unterdrücken. Umso größer ist Schleiermachers Wut gegen die "Hofparthei". Er hofft auf den König, auf dessen Einsicht, dass er ein gemeinschaftliches Band zwischen "Obrigkeit" und "Untertanen" knüpfe - "immer das Volk mit dem König, und der König mit dem Volk ..."

Dass Schleiermacher der Französischen Revolution insgesamt positiv gegenüberstand, hat erst die neuere Forschung zur Kenntnis genommen. Aber er focht für einen gewaltlosen Fortschritt. Sollte es jedoch der Obrigkeit an Vernunft fehlen, hielt Schleiermacher eine Revolution für gerechtfertigt.

Als verantwortlicher Redakteur des Preußischen Correspondenten - eine Phase in seinem Leben, die bisher zu wenig reflektiert worden ist - bekam er schnell Ärger mit der Zensur. Dem "trügerischen Stillstand der öffentlichen Meynung" (Schlegel) versuchte er durch betont patriotische Berichte entgegenzuwirken und befand, dass man den befürchteten Friedensschluss "nicht als den wahren Anfang einer neuen Ordnung der Dinge ansehen könn(t)e".

Daraufhin wurde ihm unterstellt, zum Sturz der Monarchie aufgerufen zu haben. Sogar der König schaltete sich ein und witterte eine Tendenz, die er durchaus nicht gestatten könne. Freidrich Schleiermacher wurde des Hochverrats bezichtigt und sollte Berlin innerhalb von 24 Stunden Richtung Schwedisch-Pommern verlassen. Der Staatskanzler Karl August von Hardenberg, damals selbst zwischen Baum und Borke, milderte das Urteil in einen strengen Verweis, drohte aber, ein Wiederholungsfall würde "mit unfehlbarem Verlust seiner Dienststelle geahndet".

"Ich vermisse überall das recht klare Hineinschauen in den Geist und die Forderungen der Zeit ..."

Aber Schleiermacher widersprach weiter. Er könne, erklärte er, seinen Autoren nicht vorschreiben, wie sie sich zu äußern haben, woraufhin ihm wieder Hardenberg die Leviten las (vier Jahre später verlangte er ein Vorlesungsverbot). Die Affäre, die sich in den Briefen wie ein Shitstorm spiegelt - und es folgten neue Beschuldigungen, er wurde bespitzelt und verhört - hat Schleiermacher arg zugesetzt. Er sei in einem Jahr wenigstens zehn Jahre älter geworden, schrieb er an Georg Andres Reimer, den Verleger des Preußischen Correspondenten.

Nach dem Sieg über Napoleon begann die Zeit der Restauration der alten Verhältnisse. Friedrich Schleiermacher ist untröstlich enttäuscht, fühlt sich leer und erschöpft. Wo blieben die Prinzipien der preußischen Reformer, wo die "Revolution im guten Sinne"?

In einem langen Brief an den Grafen Alexander von Dohna schüttet er sein Herz aus. Er komme sich vor "als unter den meisten Menschen nicht passend mit meinen Ansichten. Ich vermisse überall das recht klare Hineinschauen in den Geist und die Forderungen der Zeit, das geschichtlich schöpferische Talent". Er sehne sich danach, "noch einiges ausarbeiten zu können" und vertieft sich in die großartig intendierte Ableitung der "Ethik" aus der Dialektik.

Zur Ruhe kommt er in der von Staats wegen erzwungenen Apathie nicht. Schleiermacher ist Dekan der Theologischen Fakultät, 1815/16 Rektor der kurz zuvor erst begründeten Berliner Universität, zeitweise Mitglied des Departements für Unterricht, Sekretär der Philosophischen Klasse der Akademie.

Nach dem Pariser Frieden (1814) kann die Kirchenreform wieder in Angriff genommen werden. Er setzt sich leidenschaftlich für eine Synodalverfassung ein. Jedoch waren dem König die Eigenständigkeit und das Wahlrecht der Laien viel zu republikanisch, sodass er das zuständige Gremium in eine lediglich "Liturgische Kommission" umwandelte. Gegenüber dem Theologen Joachim Christian Gaß klagt Schleiermacher, dass jeder der selbstgefälligen Herren "mit eigenen parasitischen Wurzeln am Thron und Hof festhängt".

Die Briefe in diesem Band zeigen Schleiermachers Eintreten für eine politisch-gesellschaftliche Erneuerung Preußens, reflektieren seine Hoffnungen, Illusionen und Enttäuschungen.

Friedrich Schleiermacher: Briefwechsel 1813- 1816. Hrsg. von Simon Gerber und Sarah Schmidt in der Kritischen Gesamtausgabe. Verlag De Gruyter, Berlin/Boston 2020, 519 Seiten, 199,95 Euro.

© SZ vom 21.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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