Er ist wieder da. Über einen dicken, weichen Teppich aus Holzspänen, Rinden und Laub läuft Franzobel durch die Schranne in Weißenburg, die zum Lesesaal umfunktionierte Markthalle der Stadt. Zum intensiven Duft der Späne zwitschern Vögel und zirpen Grillen aus Lautsprechern; im Zusammenspiel mit einer geschickten Fotoinszenierung wird die Illusion vermittelt, man säße mitten im Wald. 2017 war Franzobel, mit bürgerlichem Namen Franz Stefan Griebl, schon einmal in Weißenburg. Fast vier Monate lebte und arbeitete der österreichische Schriftsteller in der 19 000 Einwohner zählenden Kleinstadt im Südzipfel Frankens - als deren erster Stadtschreiber.
Kaum war er da, versetzte sein Roman "Das Floß der Medusa" die Literaturwelt in Wallung: Nicolas-Born-Preis des Landes Niedersachsen, Shortlist des Deutschen Buchpreises, Bayerischer Buchpreis. Immer wieder musste Franzobel des Ruhmes wegen seinen Aufenthalt in Weißenburg unterbrechen, wo er ein Theaterstück über die kleine Stadt schreiben sollte, maßgefertigt für deren Freiluftbühne, das Bergwaldtheater. "Eine sehr spezielle Bühne", wie er findet, "so ein beeindruckendes Freilichttheater findet man nicht oft."
Nun ist Franzobel wieder in Weißenburg und liest an diesem Dezemberabend im künstlichen Schrannen-Wald und auf einem Holzpflock anstatt einem ordinären Stuhl sitzend auszugsweise vor, was bei seiner Stadtschreiberei herausgekommen ist. "Der Lebkuchenmann - ein deutscher Supersommernachtsgau" heißt das Stück, das sich nur vordergründig um die Geschichte des Städtchens dreht und frei von provinzieller Nabelschau ist. Die eine, große, alles überwölbende Geschichte habe er in Weißenburg nicht gefunden, sagt Franzobel. Also entschied er sich für eine Rahmenhandlung, in die zahlreiche Episoden gebettet sind. "Ein moderner Sommernachtstraum" sei der Lebkuchenmann geworden, sagt Franzobel alias Griebl. Und vor allem ein Stück, dessen Anspruch über Weißenburg hinaus reicht, weil es von deutscher und europäischer Geschichte getränkt ist. Am 12. Juli 2019 wird es in besagtem Bergwaldtheater uraufgeführt.
Der Lebkuchenmann ist Teil eines ebenso ambitionierten wie ungewöhnlichen Langzeitprojektes, bei dem Franzobels Stadtschreiberei den Prolog markierte und die literarische Basis schuf. Man könnte dieses Projekt so überschreiben: Eine kleine Stadt versucht großes Theater. In dem es sich renommierte Profis von außen holt und mit ihnen gemeinsam über Monate hinweg etwas entwickelt, das vom ersten Tag von der Bevölkerung getragen wird.
"Eigentlich ist es ein Theaterereignis, das längst schon begonnen hat", sagt Georg Schmiedleitner und hört nicht mehr auf, von seinen ersten Weißenburger Erfahrungen, der Offenheit und Neugier der Menschen, zu schwärmen. Der Österreicher mit Wohnsitz in Nürnberg und Nestroy-Preisträger hat als Regisseur schon an vielen deutschsprachigen Bühnen inszeniert, vom Wiener Burgtheater über das Schauspielhaus Hamburg bis zum Gärtnerplatztheater in München. Am 12. Januar hat am Stuttgarter Staatstheater seine Inszenierung von Gerhart Hauptmanns "Die Weber" Premiere.
Danach ist hauptsächlich Weißenburg angesagt bei Schmiedleitner. "Wir werden dafür sorgen, dass diese Stadt theatral kopfsteht", sagt er. Der Auftakt geriet erfolgreich. Mitte November lud Schmiedleitner mit seinem Team (Regieassistenz: Rebekka Gruber, Dramaturgie und Produktion: Antje Wagner) alle Weißenburger ein: Wer beim Lebkuchenmann mitspielen möchte, solle zur Kennenlernprobe kommen. Jeder könne mitmachen, egal, ob er oder sie Theatererfahrung hat oder nicht, ließ Schmiedleitner verbreiten, alle seien willkommen. Etwa 100 Interessierte kamen. Das ist eine Menge für eine kleine, fränkische Kommune, die bislang nicht als Theaterstadt überregional aufgefallen ist und wo man sich neuen Dingen prinzipiell skeptisch nähert.
Es wurde ein beeindruckender Abend. Fast vier Stunden lang probten da die pensionierte Oberärztin mit der Bäckereiverkäuferin, der Rentner mit dem Heilpraktiker, der Teenager mit dem Opa Gestik, Mimik und Bewegung. Hinten im Zuschauerraum saßen drei Männer und strahlten förmlich angesichts von Andrang und Engagement: Der Unternehmer Karl- Friedich Ossberger, der Buchhändler Mathias Meyer und der Lokaljournalist Jan Stephan.
Genau so hatten sie es sich erhofft, als sie das Projekt vor einigen Jahren anzuschieben begannen. Sie trieben das notwendige Geld auf, überzeugten Stadtrat und Oberbürgermeister von ihrer Idee, lockten Franzobel als Stadtschreiber nach Weißenburg und, mit dessen Hilfe, später auch Schmiedleitner. Die beiden kennen sich gut aus früheren Zusammenarbeiten.
Nun kundschaftet Schmiedleitner wenige Profi-Schauspieler aus, die mit vielen Weißenburgern Theater machen werden. Eine männliche Hauptrolle wird Andreas Leopold Schadt übernehmen, einer der TV-Kommissare im Franken-Tatort. "Es geht darum, dass wir eine soziale Skulptur schaffen, eine Theaterskulptur", sagt der Regisseur. "Das Machen ist schon Teil des Erfolgs." Bis zu 150 Beteiligte sollen auf der Bühne stehen, dazu Vereine und Gruppen. Für alle will er Platz schaffen. "Im besten Sinne ein Volksstück", schwebt Schmiedleitner vor.
Der Lebkuchenmann soll zugleich das Jubiläumsstück zum 100-jährigen Bestehen des Bergwaldtheaters werden, das, künstlerisch betrachtet, schon bessere Zeiten gesehen hat. Dabei könnte die Kulisse kaum schöner sein: Ein lange schon aufgelassener Steinbruch, den sich die Natur langsam zurückholt, mitten im Laubwald und hoch über Weißenburg. Bis in die Dreißigerjahre war das Bergwaldtheater zumindest ein kleiner Punkt auf der Theaterkarte. Es gab hier im Sommer monatelange Festspiele mit festem Ensemble, Theaterstars und einheimischen Laienspielern.
Sogar in das Werk des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann fand die Bühne Eingang, wenn auch unfreiwillig und in einem üblen Zusammenhang. "Widerwärtiger Eindruck von einem Schriftstück des Weißenburger Fremdenverkehrsvereins gegen Erika", notierte Mann am 6. März 1934 in sein Tagebuch. Seine Tochter Erika war als Schauspielerin im Bergwaldtheater engagiert worden, doch die NS-Machthaber verhinderten ihren Auftritt. Sie bemächtigten sich selbst der Bühne, ehe sich dort kriegsbedingt überhaupt nichts mehr tat. Von 1951 an bespielten die Städtischen Bühnen Nürnberg 21 Jahre lang das Bergwaldtheater; seit 1973 ist es nur noch Abspielstätte für Tourneetheater und Kulisse von Konzerten.
Nun also soll wieder etwas Eigenes her und etwas mit Anspruch und eigener künstlerischer Handschrift noch dazu. Deswegen gaben sie Franzobel von Anfang an ausdrücklich mit auf den Weg, er möge aufschreiben, was immer er für gut, passend und richtig halte, und das dürfe, ja das solle sogar etwas sein, das nicht allen gefalle. Daran hat er sich dann auch gehalten. "Wir sind Reichsstädter, stolz darauf, nix anderes zu kenna", lässt er im Lebkuchenmann einen jungen Weißenburger sagen.
Die skurrile und deftige Handlung spielt "im Wald der deutschen Geschichte", wie es an einer Stelle heißt, einem Wald voll mit "lauter Ungeheuerlichkeiten." Nur vordergründig ist es der 2500 Hektar große Stadtwald, den Ludwig der Bayer 1338 den Weißenburgern schenkte. Ein Mann hat dort einen Autounfall; er kriecht verletzt, benommen und traumatisiert aus dem Wrack und taumelt fortan durch einen Wald voller Gestalten, eine Zwischenwelt, Wald der Träume und Fantasien.
Dabei verschwinden laufend die historischen Ebenen; der Soldat etwa, gerade von den Preußen angeworben, landet in der Wehrmacht. Flüchtlinge, Sagengestalten, dekadente Adelige, dumpfbackige Lokalgrößen, katholische Hexenverfolger - "wir werden es den Zuschauern nicht einfach machen und sie fordern", verspricht Georg Schmiedleitner.