Freie Szene:Die Kunst des Überlebens

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Dass es manche freie Tanz- und Performance-Kompanie noch gibt, grenzt an ein Wunder. In Berlin fand nun ein Symposium über die "Kultur der Zukunft" in der Theater- und Tanzszene statt. Dabei ging es vor allem um ein Thema: Woher kommt das Geld?

Von DORION WEICKMANN

1996 hat der Choreograf Helge Letonja in Bremen "Steptext" gegründet, eine freie Tanz- und Performance-Kompanie. Dass es sie immer noch gibt, grenzt an ein Wunder. Die Hansestadt Bremen ist notorisch finanzklamm, Letonja und seine fünf fest angestellten Mitarbeiter müssen mit rund 200 000 Euro im Jahr auskommen. Für die Spiel- und Probenstätte Schwankhalle zahlen sie zwar keine Miete, dennoch deckt die Subvention gerade mal den halben Jahresetat. Die andere Hälfte erwirtschaftet "Steptext" selbst. Was nie funktionieren würde, hätte Letonja nicht vieles richtig gemacht. Er ist früh ins audience development eingestiegen, hat eine Jugendkompanie gegründet, älteren "Amis de la Danse" eine Plattform verschafft. "Steptext" ist mit lokalen Wissenschaftseinrichtungen und Kulturzentren vernetzt, jede Produktion wird von Begleitprogrammen flankiert.

Am Ende ist freilich ausschlaggebend, was er auf die Bühne bringt. Der Österreicher zählt zu den Choreografen, die ein ausgeprägtes Formbewusstsein mit wacher, geradezu seismografischer Zeitanalyse verbinden. Das Flüchtlingsthema entdeckte er 2011, als es auf dem Radar der Medien noch kaum aufgetaucht war. Kunst, findet er, muss das Heute gestalten. Das sehen viele seiner Kollegen in der freien Szene ähnlich. Nur hängen die meisten den Hinweis an: "Aber wir haben kein Geld dafür, weil viel zu viel in die festen Häuser fließt."

Wer bekommt nach welchen Kriterien das Geld aus Stadt- und Staatssäckeln?

Das Berliner Radialsystem ist ein Prachtstück großstädtischer Architektur und als Kulturzentrum ein herrliches Schaufenster für zeitgenössische Musik, Theater, Tanz und Performance. Ein festes Haus mit institutioneller Förderung ist es nicht. Wer hier auftreten will, muss das Geld selbst mitbringen. Jedes Jahr aufs Neue ringt das Leitungsteam um Jochen Sandig und Folkert Uhde mit dem Senat ums Budget, weil es Nachwuchstalenten Mietnachlässe gewähren und als Koproduzent auftreten will. 2016 geht die Bittstellerei in die zehnte Runde. Deshalb beschlossen die Macher, eine Offensive zu starten - mit einem Symposium über die "Kultur der Zukunft" und ihre Herausforderungen. Die Frage, wer warum und nach welchen Kriterien das Geld aus Stadt- und Staatssäckeln kriegt, spielte dabei - was Wunder! - eine Hauptrolle. Künstler und Kuratoren wünschen sich eine faire, durchschaubare Verteilung der Mittel. Aber was ist fair, was heißt durchschaubar? Und wie verhält es sich mit der Qualität?

Darüber verhandeln Bremer Künstler derzeit zum ersten Mal mit der Politik. Es geht um Ausgestaltung, Verfahren und Kriterien der kommunalen Kunstförderung. Zudem hat die Hansestadt einen "Solidarpakt Kultur" verabschiedet: Theater und Museen lassen die freie Szene in ihre Häuser und greifen ihr finanziell unter die Arme. 300 000 Euro sind bereits zusammen gekommen.

Auf solche Signale der Zusammengehörigkeit wird man andernorts noch lange warten, genau wie auf Förder-Transparenz. Bei der Konferenz im Radialsystem unterzog Martin Tröndle, Professor für Kulturbetriebslehre in Friedrichshafen, die Satzungen diverser Stiftungen einer Schnellsichtung. Ergebnis: "Man muss von der öffentlichen Hand klare Richtlinien fordern, und Kunstförderung muss die Autonomie der Kunst achten." Statt auf "Sekundärnutzen" zu schielen, etwa: Profilierung beim Wähler. Unter zunehmenden Profilierungsdruck geraten allerdings die Künstler, und zwar jenseits ihres Metiers. Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat füttern, Pressearbeit machen, Fördergelder akquirieren, Publikum werben, Marketingaktionen lostreten, Education-Programme auflegen - das alles müssen prekär Beschäftigte in der freien Szene genauso leisten wie die PR-Profis der Kulturtanker. Es gebe Verkaufsfaktoren mit wechselnden Konjunkturen, so Tröndle: "Vor dreißig Jahren ging es um Gesellschaftsrelevanz, dann sollte die Kunstproduktion Tourismus und Wirtschaftsansiedlung ankurbeln, und heute sind Education-Formate der Goldstandard".

Letonja hat das früh begriffen und dafür andernorts Energie gespart. Von den Social-Media-Kanälen wird nur Facebook bespielt, sonst setzt das "Steptext"-Team auf direkte Begegnung - und zwar weit über Bremen und Deutschland hinaus, zum Beispiel mit dem Festival "Africtions". Zum 20. Geburtstag hat "Steptext" von den Bremer Kultursachwaltern eine fünfjährige Förderzusage bekommen. Damit wird ein Modell belohnt, das neuerdings gern mit zwei englischen Worten etikettiert wird: best practice.

© SZ vom 16.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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