Französische Literatur:Soldaten der Freundschaft

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Der zweite Roman des jungen Franzosen Loïc Merle mit dem Titel "Allein, unbesiegbar" erzählt von zwei Kindheitsgefährten und der Einsamkeit des Erwachsenwerdens.

Von Cornelius Wüllenkemper

"Wir sind beide Soldaten, jeder auf seine Art. Zwei Kämpfer, bereit bis zum Ende zu gehen." Kérim San liegt, schwer von Leukämie gezeichnet, im sterilen Therapieraum eines Krankenhauses, als er diese Worte an seinen alten Schulfreund Charles Zalick richtet. Charles hat seinen Posten als Hauptfeldwebel auf einer französischen Militärstation irgendwo in der Wüste Hals über Kopf verlassen, um Kérim an seinen voraussichtlich letzten Tagen zu begleiten. Ihre Freundschaft hatte bei einer Schlägerei auf dem Pausenhof der Schule in der namenlosen französischen Stadt "C." begonnen und entwickelte sich fortan zu einer "anstrengenden und eifersüchtigen Beziehung."

Während Kérim sich vom Kleinkriminellen zum erfolgreichen Lokal-Mafioso hocharbeitete, zog Charles für Frankreich in den Krieg, um "nicht mehr nachzudenken", um seine Vergangenheit als bester Freund des Bandenchefs hinter sich zu lassen. Sieben Jahre ist es her, dass "alles tot" war auf dem Schlachtfeld ihrer Freundschaft und Charles im Gefecht "zum Nutzen Frankreichs" den "Weg zum Erwachsenenalter, zutiefst allein" betrat, so glaubte er zumindest. Währenddessen hat sich Kérim, Sohn einer laotischen Mutter und eines türkischen Vaters, vom vermeintlichen Makel seiner Herkunft befreit und sich durch rücksichtsloses Machtstreben allseitige Anerkennung in der gehobenen Gesellschaft erfochten. Das Leben ist für beide wie ein Kriegsschauplatz im Kampf um Zugehörigkeit, Anerkennung und Freiheit, "mit Verbündeten und Gegnern, heiklen Geheimnissen und der Gewalt, die dazugehört."

So weit, so martialisch. Und wirklich erzählt Loïc Merle in seinem Roman "Allein, unbesiegt" das Leben als eines, dessen Sinn darin besteht, sich gegen alle Widrigkeiten bestmöglich zu wappnen. Um dieses eher ernüchternde Grundmotiv spinnt der Autor freilich eine fein justierte, ebenso ungeschminkt wie zärtlich erzählte Geschichte über die Freundschaft zwischen den zwei ungleichen Zwillingsbrüdern Kérim und Charles, über das "unerklärliche Hingezogensein zu einem anderen, den man instinktiv erkennt und der sich ohne die Komplikationen von Sexualität ganz und gar hinzugeben scheint." Was zu Beginn erscheint wie eine reine Freundschafts-Ökonomie, in der Konkurrenzen, Abhängigkeiten und vor allem Machtverhältnisse die Regeln bestimmen, entpuppt sich im Laufe dieses Entwicklungsromans als ein unkalkulierbarer Tauschhandel. Dabei heißt Freundschaft noch lange nicht, dass man sich versteht oder gar miteinander auskommt - sie ist einfach da, ohne irgendetwas zu verlangen.

Die Handlungsanordnung dieser parabolischen Geschichte wirkt wie ein Fiebertraum

"Wir leben, wie wir träumen - allein." Dieses Joseph-Conrad-Zitat kann als Leitmotiv des literarischen Universums von Loïc Merle gelten. Schon sein in Frankreich hochgelobter Erstling ("L'esprit de l'ivresse" - Der Geist der Trunkenheit) über die gewalttätigen Ausschreitungen in den Pariser Vororten von 2005 erzählte von der Einsamkeit der Abgehängten, vom verzweifelten Kampf der Verlierer. Auch in "Allein, unbesiegt" geht es nicht zuletzt um die Frage, wie man das Scheitern, die Irrwege und die Einsamkeit in die eigene Lebenswelt integriert, ohne daran zu Grund zu gehen.

Der nur knapp dem Tod entkommene Leukämie-Patient Kérim entschließt sich, mit seinen durch Drogenhandel, Erpressung und andere unschönen Dingen angehäuften Reichtümern auf dem Berg über ihrer Heimatstadt "C." ein Heim für die Verstoßenen einzurichten: Zwei zerlumpte Dichter, eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern, ein arbeitsloser Ingenieur, ein Viehzüchter, der gerade aus der Psychiatrie entlassen wurde, ein drogenabhängiger Flugzeugpilot - das ist das "Volk von Exilanten", die sich auf Kérims Kosten im "Wolkenhaus" endlich einmal geborgen fühlen dürfen. Charles ist derweil offiziell vom Kriegsdienst in der Wüste desertiert und versteckt sich mit einer Pariser Philosophiestudentin und Gelegenheitsprostituierten in der Einsiedelei vor dem Militärgericht. Doch das Auffanglager für Vertriebene aus dem eigenen Leben wird alsbald heimgesucht von Konkurrenzgebaren, Habsucht und gegenseitigen Verdächtigungen, bis der Wohltäter Kérim die Exilanten wieder nach Hause schickt.

Die Handlung in Loïc Merles Roman wirkt nicht zufällig wie ein überdrehter Traum voller surrealer Volten und kulissenhafter Szenerien. Auch die Figuren bleiben unwirklich und ungreifbar - und gehen einem gerade deshalb so nah. Sie vereinen in sich die Widrigkeiten und Unwägbarkeiten des Lebens und führen vor Augen, dass am Ende ein jeder für sich alleine kämpft. Loïc Merles tastende, sich immer wieder selbst in Zweifel ziehende Sätze lösen einen Sog aus, der Erkenntnisse über die geheime Mechanik des Lebens freisetzt. Am Ende erwachen Charles und Kérim, diese Soldaten ihres eigenen Schicksals, mit der Einsicht, dass sie immerhin solange unbesiegt bleiben, wie sie sich den Glauben an ihre Freundschaft nicht nehmen lassen.

Loïc Merle: Allein, unbesiegt. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2016. 208 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.

© SZ vom 12.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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