Französische Literatur:Der Untergang der alten Welt

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Zum ersten Mal ist jetzt Charles Péguys Schrift über das Geld aus dem Jahr 1913 vollständig auf Deutsch zu lesen. Sie führt fassungslos die Verwandlung des Geldes vom Tauschmittel zum Spekulationsobjekt vor Augen.

Von Joseph Hanimann

Haben wir bei unseren Ansätzen zur Kapitalismuskritik etwas übersehen? Gewiss nicht in dem Sinne, dass hinter den Theoriemassiven Marx, Engels, Walter Benjamin oder Georg Simmel plötzlich ein neuer Gipfel zum Vorschein käme. Die hier zum ersten Mal vollständig auf Deutsch vorliegende Schrift des französischen Autors Charles Péguy aus dem Paris der vorletzten Jahrhundertwende ist von leichterer Art und will doch noch höher hinaus. An der ökonomischen Theorie vorbei zielt sie auf das, was der Übersetzer im Vorwort eine "Theologie des Geldes" nennt, auf die Darstellung eines zivilisatorischen Epochenwechsels, in dem das Geld vom bloßen Tauschmedium zum Spekulationsobjekt mutierte.

Der Dreyfusard, Sozialist, katholische Traditionalist und Herausgeber der "Cahiers de la Quinzaine", der 1914 an der Front fiel, hat ein Werk aus Monumentaldichtungen und flammenden Essays gegen die Segnungen der modernen Welt hinterlassen, das erst wieder entdeckt werden muss. Dieses Bändchen bietet mit seinen autobiografischen Einschüssen einen guten Einstieg dazu. Der 1913 entstandene Text ist einer der kompaktesten in der zerklüfteter Hinterlassenschaft Péguys. Zentralthema ist die jähe Verwandlung der Gemeinschaftsform "Volk" durch Parlamentarismus, industrielle Lohnarbeit und Sozialkampf in das politische Stimmvolk, das wirtschaftlich strangulierte und gewerkschaftlich organisierte Arbeitsvolk, in das Gesamtspektrum von Beziehern staatlicher Versorgungsleistungen und aktiven Teilnehmern am Wirtschaftswachstum. Als Motor dieser Verwandlung sah Péguy jene Akkumulationslogik des Geldbürgertums, der sich die ganze Gesellschaft verschrieben habe, von den Aristokraten bis zum gemeinen Volk. "Seit Jesus Christus hatte die Welt sich weniger verändert als in den letzten dreißig Jahren", stellt der Autor fassungslos fest.

Aus dieser Fassungslosigkeit heraus lotet Péguy mit dem Prophetenblick eines bangen Visionärs jenen historischen Moment aus, in dem der Kapitalismus ins zivilisatorische Räderwerk der Gesellschaft eingriff und für jedermann konkret wurde. In seiner Schrift ist in der ganzen wilden Ursprünglichkeit zu spüren, wie eine zwar weitgehend fantasierte, aber eben kollektiv und damit objektiv fantasierte "alte" Welt aus bäuerlicher Genügsamkeit und handwerklichem Arbeitsethos in ein System umschlug, das alles und jedes in Arbeitsaufwand und erzielten Mehrwert umrechnet.

Die Freiheit, die im Zeichen des Liberalismus in unsere moderne Lebenswelt eingekehrte Freiheit ist, war in den Augen Péguys das Gegenteil von Freiheit. Frei war für ihn der Handwerker oder Arbeiter, der sein Tun nicht dem Diktat kapitalistischer Mehrwertschöpfung verschrieben hatte. Freiheit bestehe darin, "an das zu glauben, woran man glaubt", die kapitalistisch moderne Freiheit hingegen darin, nicht wirklich zu glauben, um den Gegner, der auch nicht wirklich glaubt, was er glaubt, nicht zu hintergehen, schreibt Péguy. Wahre Freiheit sei ein System von Hochachtung, die moderne Freiheit ein System von Gefälligkeit und Kompromittierung. Der Philosoph Peter Trawny bezeichnet in seinem Nachwort zum Band die von Péguy beschriebene Einwilligung des Volks unter die Herrschaft des Geldes als eine Art "Stockholm-Syndrom des Kapitalismus", nach jenem Banküberfall, bei dem sich 1973 die Geiseln, wohl aus spontaner Überlebensstrategie, auf die Seite der Geiselnehmer schlugen. Dieser Wechsel habe auch den Gegensatz zwischen Arm und Reich von Grund auf verändert.

Bestand Armut einst in einer mehr oder weniger murrend hingenommenen dürftigen Lebenssituation, so bedeutet sie heute Schande vor dem Reichtum und das Eingeständnis, dass man die Freiheit der kapitalistischen Welt nicht zu nutzen verstand. Péguys wildes Denken aus der Vorgeschichte unserer Finanzkrisen ist dank dieser sorgfältigen Übersetzung nun endlich auch hierzulande zugänglich.

© SZ vom 17.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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