Französische Literatur:Der negierte Blick

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Zum schwierigen Verhältnis von Kindern, Eltern und Hausangestellten: Die Marokkanerin Leïla Slimani spricht in ihrem mit dem französischen Prix Goncourt ausgezeichneten Roman "Dann schlaf auch du" Urängste an.

Von Meike Fessmann

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du. Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand Literaturverlag, München 2017. 224 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Die Anforderungen sind groß, die Erwartungen riesig. Wer Kinder bekommt, gerät leicht unter Druck. Was es bedeutet, in einer hoch individualisierten Gesellschaft vom jahrelang trainierten Eigeninteresse auf Altruismus umzustellen, erfahren vor allem Mütter am eigenen Leib. Kaum haben sie sich die Selbständigkeit zurückerobert, die ihnen die Schwangerschaft genommen hat, kleben sie am Double-Bind ihrer Emotionen: tief verflochten in die Liebe zum Kind, müssen sie das Band lockern, wenn sie seinen Bannkreis verlassen wollen, um wieder zur Arbeit zu gehen. Die Angst wird zur ständigen Begleiterin.

Leïla Slimani macht aus dieser Konstellation einen Roman von umwerfender Ambivalenz. Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, dem wichtigsten Literaturpreis Frankreichs, ist "Chanson douce", wie "Dann schlaf auch du" im Original heißt, eher ein unheimliches als ein sanftes Wiegenlied. Wenn der Roman beginnt, ist die Tragödie bereits geschehen: Adam und Mila, die beiden Kinder von Myriam und Paul Massé, sind tot. Die Nanny hat sie umgebracht. Dabei sah es so aus, als sei Louise die Idealbesetzung, fast so, als wäre sie eine moderne Inkarnation von Mary Poppins.

Denn Louise, ebenso zart wie energisch, kümmerte sich nicht nur um das Baby und seine schwierige Schwester. Sie brachte auch den Haushalt der Massés auf Vordermann. Sie putzte und wusch, nähte Knöpfe an, flickte, ordnete, sortierte, kochte und buk. Die viel zu kleine Wohnung in der Rue d'Hauteville im 10. Arrondisement wurde unter ihren Fittichen behaglich. Wenn die Eltern erschöpft nach Hause kamen, schlich sich Louise unauffällig davon.

Alle beneideten das Ehepaar um Louise, die sogar Abendessen für den Freundeskreis kochte. Irgendwann wurde es Zeit, sie auch mal in die Runde zu bitten. Dann saß sie dabei wie eine "Fremde", eine "Emigrantin". Dabei ist es die Hausherrin, die aus dem Maghreb stammt, nicht sie. Myriam ist Anwältin, ehrgeizig und perfektionistisch. Zufällig hatte sie einen alten Kommilitonen auf der Straße getroffen, in Mutter-Kluft, auf dem Weg zum Spielplatz. Der hatte sie erst gar nicht erkannt. Aber er wusste noch, wie fleißig sie ist. Sie nahm sofort das Angebot an, in seiner Kanzlei zu arbeiten. Deshalb brauchten sie Louise, die sie und ihr Mann, ein Musikproduzent, der auch als Vater weiterleben will wie bisher, aus einer Vielzahl von Bewerberinnen ausgesucht haben.

Leïla Slimani, 1981 in Rabat geboren und in Marokko aufgewachsen, lebt seit vielen Jahren in Paris. Sie hat an der Sciences Po studiert und als Journalistin gearbeitet. Nach "Dans le jardin de l'ogre", ihrem Debüt von 2014, ist "Chanson douce" ihr zweiter Roman. Die Übersetzung von Amelie Thoma fängt seine Atmosphäre trefflich ein, diese Mischung aus kühler Sachlichkeit und unterschwelliger Bedrohung. Das ist das große Kunststück dieses Romans: Er ist einerseits realistisch und zeichnet ein dichtes Porträt der sozialen Verwerfungen im Paris der Gegenwart, das nach den Attentaten noch neurotischer geworden ist. Andererseits verarbeitet er märchenhafte und mythische Elemente, wie sie sich in Wunschträumen und Albträumen niederschlagen.

Dieser Roman rührt an Urängste. Aber er tut es so sachlich und folgerichtig, dass sich die ganzen Paradoxien des albtraumhaften Drucks, in den ambitionierte Eltern geraten, wenn sie ihre Karrieren mit der Kindererziehung in Einklang bringen wollen, wie Schlingpflanzen verknoten. Leïla Slimani erzählt ihren Roman in einzelnen Szenen. Sie sind nicht chronologisch angeordnet, sondern so, dass sie den Leser ganz allmählich in die Tiefenstruktur der Geschichte hineinziehen. Er wird gefüttert mit Elementen, die an das Setting verblasster Filme erinnern: die Patina des Vergangenen überzieht alles mit Melancholie, die mal etwas Leuchtendes bekommt, mal ins Düstere kippt. Wie die Kommissarin, die erst am Ende auftaucht, sucht auch der Leser die ganze Zeit nach dem "Fehler". Was haben die Eltern übersehen? Warum ist Louise durchgedreht?

Die Strategie der Nanny: Ein weiteres Kind würde sie unentbehrlich machen

Mit einem starken Gespür für die Abgründigkeit von Gefühlen, durch die Überforderungsstruktur moderner Elternschaft maßlos forciert, führt uns Leïla Slimani durch eine Welt, in der Kinder, auch wenn sie noch so sehr geliebt werden, immer im Weg sind. Louise ist in gewisser Weise Myriams Spiegelgestalt. Anders als Paul war sie längere Zeit mit den Kindern allein zu Hause und stürzte in einen Teufelskreis aus Anspannung, Langeweile, Einsamkeit und Scham. Wieder zur Arbeit zu gehen, war für sie eine Befreiung, auch aus den Neidgefühlen, die sie ihrem Mann gegenüber empfand. Weil sie die Situation kennt, weiß sie, was sie Louise zumutet. Sie hat nicht nur den Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen, sondern auch ihr gegenüber, die bereits eine eigene Tochter großgezogen hat. Paul sieht das pragmatisch. Louise sei ihre Angestellte, nicht ihre Freundin.

Doch das Alleinsein mit den Kindern ist nicht Louises eigentliches Problem. Sie wohnt in einer schäbigen Ein-Zimmer-Wohnung in einem heruntergekommenen Bezirk, der Vermieter drangsaliert sie, der verstorbene Ehemann hat ihr nichts als Schulden hinterlassen. Als ein Mann vor ihrer Haustür auf offener Straße "scheißt", befürchtet sie, sie werde auch so enden, obdachlos, "wie ein Tier". Der Roman ist von Tier-Metaphern durchzogen. Louise nistet sich immer mehr im Leben der Massés ein. In einer Mischung aus Bequemlichkeit und Gönnerhaftigkeit nehmen sie sie mit in den Urlaub auf eine griechische Insel. Und so bekommt sie ein Bild davon, wie schön das Leben sein kann.

Virtuos inszeniert Leïla Slimani die unselige Verflechtung von unstillbaren Begierden und sozialer Not. Louise wird dafür bezahlt, die Kinder zu hüten, und sie soll das mit genau dem richtigen Maß an Gefühlen tun. Sie soll liebevoll sein und doch jederzeit loslassen, wenn die Eltern ihre Ansprüche anmelden. Als sie spürt, dass sie ihnen langsam lästig wird, ersinnt sie eine Strategie, um sich unentbehrlich zu machen. Sie will sie dazu bewegen, ein weiteres Kind zu bekommen. Immer weiter steigert sie sich in diesen Wahn hinein.

Die im Bett ihrer Arbeitgeber herumschnüffelnde Nanny ist ein starkes Bild für die Grenzverletzung in Sachen Intimität, die in häuslichen Arbeitsverhältnissen fast unvermeidbar ist und stillschweigend übergangen wird. Dass diese Ignoranz auch verletzend ist, der Blick der Angestellten wird negiert, setzt dieser Roman mit großer Wucht in Szene. Louise hasst es, zur Zuschauerin fremder Intimität gemacht zu werden. Und Myriam entdeckt viel zu spät, dass sie sich nie Gedanken gemacht hat, wie Louise lebt. Die abgrundtiefe Einsamkeit der sozial Deklassierten hat mit dem unbehaglichen Alleinsein einer gut situierten Mutter wenig zu tun. Das ist der Sprengstoff, den dieser Roman leichthändig in die Luft jagt.

© SZ vom 16.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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