Französische Literatur:Der Moment vor dem Schlag

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Eine Fotografin ist umgekommen: In "Nach seinem Bilde" fragt Jérôme Ferrari, was in ihren Aufnahmen vom Leben bleibt.

Von Joseph Hanimann

Für den Roman "Predigt auf den Untergang Roms" bekam Jérôme Ferrari 2012 den Goncourt-Preis, darin entwickelte sich die Handlung in einer langen Satzfolge zu Beginn aus der Betrachtung eines alten Familienfotos wie aus einem Säurebad der Erinnerung. Die Fotografie spielt bei diesem Autor eine wichtige Rolle. In seinem neuen Roman steht sie im Mittelpunkt: Antonia, die Hauptfigur, ist Fotografin. Sie kommt aber schon auf den ersten Seiten um.

Während der Totenmesse, die im Buch die Erzählzeit ausmacht, schweben im Kopf der anwesenden Trauergäste Erinnerungsbilder der Verstorbenen herum. Und mit ihnen kommen Betrachtungen über den Wahrheitsgehalt der im Bild fixierten Momente, über die Fragwürdigkeit des Kamerablicks zwischen Objektivität und voyeuristischer Obszönität, über den Zusammenhang zwischen der Fotografie und dem Tod. Bekanntlich gehörten zu den ersten Menschendarstellungen in der Geschichte der Fotografie, bedingt durch die lange Belichtungszeit, vor allem Leichen.

Nach dem Körper der jungen Frau, die in diesem Roman an einem heißen Sommertag in einer korsischen Dorfkirche im Sarg liegt, hatte erst lange gesucht werden müssen. Sie war bei einem Autounfall umgekommen, auf der Heimfahrt nach einem banalen Fototermin auf einer Hochzeit. Am Tag davor hatte Antonia im Hafen der korsischen Stadt Calvi zufällig einen Mann wiedergetroffen, den sie zehn Jahre früher in Belgrad als Mitglied der Jugoslawischen Volksarmee kennengelernt hatte, und der nun bei der französischen Fremdenlegion war. Die Müdigkeit nach der durchdiskutierten Nacht dürfte beim Unfall mitgespielt haben.

Was ist erstrebenswerter, ein langweiliges Leben oder eine jähe Beschleunigung mit dramatischem Ausgang? Antonia, die in ihrem Fotografinnenalltag am laufenden Meter Hochzeits- und Porträtaufnahmen knipste, hatte sich mit ihrer Kamera immer von Kriegsschauplätzen angezogen gefühlt. Schon als junges Mädchen war sie in einen jungen Kämpfer der Korsischen Befreiungsfront verknallt gewesen, den sie heiratete, durch wiederholte Gefängnisaufenthalte aber auch bald wieder verlor. Früh war ihr indessen klar geworden, wie schäbig die Wirklichkeit hinter dem aufregenden Schein oft ist. Als Fotografin zu einer nächtlichen Pressekonferenz an einem geheimen Ort des korsischen Maquis geladen, hatte sie in den vermummten Gestalten ihren Verlobten und dessen Freunde erkannt. Das Schäbige an dieser Farce konnte ihre Kamera nicht zeigen.

Gewalt offenbart sich eher im Schwelen als im Ausbruch

Im Lauf ihrer Berufserfahrung lernte Antonia, was die Fotografie dennoch alles vermag. Das erste eigene Bild, auf das sie stolz war, zeigte eine Szene mit ihren Jugendfreunden an einem korsischen Strand, bei welcher ihr künftiger Verlobter grundlos einen fremden Touristen verprügelte. Antonias Aufnahme zeigt aber nicht den Moment, in dem die Schläge auf das Opfer einprasseln, sondern jenen unmittelbar davor, den feindseligen Blick der Jugendlichen und den vergnügt ins Bild spazierenden Sommerfrischler.

Der jungen Fotografin war also damals schon klar, dass Gewalt sich eher in ihrem Schwelen als im Ausbruch offenbart. Auch hatte Antonia zuvor "den Gorgonen noch nicht ins Auge geblickt, sie hatte nur zum ersten Mal deren Anwesenheit verspürt". Das Schielen durchs Auge der Kamera hin zur Medusa erfolgt in diesem Roman durch eine Reihe von Rückblenden nicht nur in Antonias kurzes Leben, sondern weit darüber hinaus. Erfundenes vermischt sich mit realen Ereignissen, vom Ersten Weltkrieg, dessen Gräuel der serbische Fotograf Rista Marjanović auf dem Balkan festgehalten hat, bis zum Jugoslawienkrieg der Neunzigerjahre, den Antonia fotografierte.

Den Rhythmus der zwölf Episoden geben die gesprochenen und gesungenen Teile der Totenmesse vor: "Kyrie eleison", "Dies irae", Evangelium, "Agnus Dei", "Libera me, Domine". Das Hochamt wird zelebriert von Antonias Patenonkel, der ihr als junger Seminarist ihren ersten Fotoapparat geschenkt und sie dann als einfühlsamer Mentor durchs Leben begleitet hat.

Ferrari beweist aufs Neue seine Kunst der thematischen Verdichtung. Beiläufiges und historisch Schwerwiegendes kontaminieren einander immerfort. Das Plaudern und Lachen der eben noch rührseligen Trauergäste draußen beim Rauchen vor der korsischen Dorfkirche ruft die Erinnerung ans hämische Lachen einiger junger Leute auf einer Donaubrücke in Belgrad über einen Soldaten der Volksarmee wach, das tiefe Wunden schlug. Der Autor macht es einem nicht leicht mit dem Hin und Her der Episoden. Lange kreisen die Bilder erhängter Araber 1911 in Tripolis, eines ausgehungerten Mannes im Feldlazarett 1915 auf Korfu, einer Verschwörungszelle des korsischen Widerstands 1984 in Ajaccio oder eines umkippenden Mauerteils 1989 in Berlin beziehungslos umeinander, bis ein Zusammenhang sichtbar wird. Sie sind in den Köpfen der Trauergäste zu wenig solide verankert.

Erzählzeit und erzählte Zeit kommen in kein Verhältnis zueinander

Diese Trauernden wirken, abgesehen vom Priester, seltsam abstrakt. Und der über allem stehende Erzähler bleibt uns in diesem Buch fern. Erzählzeit und erzählte Zeit kommen zunächst in kein Verhältnis zueinander, als wäre der Zoom unscharf eingestellt. Nur zögerlich entfaltet der Roman seine ganze thematische Breite.

Dass Gott den Menschen "nach seinem Bilde" geschaffen haben soll, wie der aus der Bibel entlehnte Romantitel in Erinnerung ruft, will der wenig religiös veranlagten Antonia nach ihrer Welterfahrung nicht in den Kopf. Nein, schön sei es nicht, dieses Ebenbild Gottes, findet sie, "und das Vorbild dürfte noch schlimmer sein".

Dennoch legt sie die Kamera nicht aus der Hand. Zwar bleibt der Fotografie jener Hoffnungsschimmer von Wunder und Auferstehung verschlossen, den die Malerei selbst hinter den schmerzlichsten Kreuzigungsszenen anzuzeigen vermag. Und wäre Christus am Kreuz fotografiert worden, hätte sich daraus kaum eine Religion ergeben. Doch besteht die Größe der Fotografie in ihrer objektivierenden Diesseitigkeit.

In der Verbindung solcher Betrachtungen mit Episoden der Zeitgeschichte und mit dem anrührenden Porträt einer lebens- und weltsüchtigen jungen Frau verdichtet der Roman sich schließlich zu jener Intensität, die das Werk Jérôme Ferraris auszeichnet. Und der Übersetzer fängt mit seinem breiten Satzrhythmus, der die Partizipialkonstruktionen des Präsens aus dem Original nachklingen lässt, ohne emphatisch zu werden, den zugleich üppigen und trockenen Erzählstil des Autors auch auf Deutsch wunderbar ein.

Jérôme Ferrari: Nach seinem Bilde. Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession Verlag, Zürich, 2019. 208 Seiten. 20 Euro.

© SZ vom 17.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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