Frankreich:Spinne unter der Lupe

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Fred Vargas schickt ihren sturen Kommissar Adamsberg gegen allerlei Widerstände in eine Welt der Gerüchte und Gewalt gegen Frauen.

Von Lothar Müller

In Kriminalromanen herrscht oft ein ziemliches Gedränge von Zeichen, die gedeutet, von Spuren, die entziffert, Schlüssen, die gezogen werden wollen - und falschen Fährten, auf die der Leser gelockt werden soll. Manchmal geistern zusätzlich noch irgendwelche Hausgespenster herum. Es kann ja in einem Krimi kein Ermittler eine Lupe aus der Schublade ziehen, ohne dass an der Wand hinter ihm der Schatten von Sherlock Holmes auftaucht.

In "Der Zorn der Einsiedlerin", dem neuen Roman der französischen Schriftstellerin Fred Vargas, zieht Kommissar Adamsberg aus der Schublade seines übervollen, wir dürfen annehmen, sehr unaufgeräumten Schreibtisches eine Lupe und betrachtet den Rücken einer Spinne, in der sein Kollege Voisenet, Experte für alles, was dem Tierreich entstammt, sogleich eine Einsiedlerspinne erkennt. Wir kommen auf die Spinne gleich zurück, betrachten aber zuvor Jean-Baptiste Adamsberg, der in seinem Notizbuch blättert, weil er den Fachbegriff schon wieder vergessen hat: "Cephalothorax. Sehr gut. Konnte man doch gleich Rücken sagen."

Dies ist der zehnte Roman mit Jean-Baptiste Adamsberg, der aus der französischen Provinz, einem kleinen Ort in den Pyrenäen stammt und es bis zum Chef im Dezernat für Gewaltverbrechen der Pariser Polizei gebracht hat. Die Lupe hat ihm seine Autorin nur zum Scherz in die Hand gelegt. Denn in dem Kopf, der zu dieser Hand gehört, geht es zu wie auf dem unaufgeräumten Schreibtisch. Er ist in der Lage, eine Fülle von Details aufzunehmen, aber die messerscharfe Logik, mit der Sherlock Holmes agierte, gibt es darin so wenig wie die Souveränität, mit der er über das Expertenwissen seiner Zeit verfügte. Die Ermittlungserfolge, denen er seine Karriere verdankt, entspringen dem schwer bestimmbaren Organ, mit dem er die Witterung eines Falles aufnimmt. Wenn es ihn auf eine Spur gesetzt hat, dann lässt er sie so schnell nicht wieder los.

Eine junge Frau und ein Kind auf der Flucht vor skrupellosen Verbrechern und der Polizei: „Bastard“ des belgischen Zeichners Max de Radiguès ist ein Comic wie ein Gangsterfilm, spannend und mit zahlreichen Genre-Zitaten. Die Illustrationen in dieser Beilage stammen aus diesem Band. Illustration: Max de Radiguès/Reprodukt Verlag (Foto: N/A)

Er verbeißt sich in seine Fälle, in seinen Grübeleien mischen sich Irrtum und Intuition, und wer ihn aus der Position eines lupenreinen Rationalismus betrachtet, dem muss er wie ein Schlafwandler vorkommen oder jemand, der im Nebel stochert. Inspektor Danglard, Mitglied seiner Brigade, ist ein lupenreiner Rationalist, mit festplattenhaftem Gedächtnis, enzyklopädischem Wissen und einem unerschöpflichen Reservoir an Zitaten aus Literatur und Philosophie.

Frédérique Audoin-Rouzeau, die den Autorennamen Fred Vargas gewählt hat, hat Danglard eigens erfunden, damit Jean-Baptiste Adamsberg, der Mann aus der Provinz, nicht ganz Herr in seinem Kommissariat ist. Als Adamsberg die Einsiedlerspinne aus der Schachtel nimmt, ist noch vieles unklar, nicht zuletzt die Frage, ob es überhaupt einen Fall gibt. Gut, es sind in der Provinz, in der Nähe von Nîmes, einige Leute zum Opfer von Spinnenbissen geworden, im Netz kochen Theorien über die Mutation in Zeiten des Klimawandels hoch, die Spinnen und ihre Gifte horrorfilmtauglich werden lassen, aber seine Brigade ist skeptisch, als Kommissar Adamsberg die Witterung einer Mordserie aufnimmt, und Danglard ist das Zentrum dieser Skepsis. Eben noch hat er in dem im Handumdrehen gelösten Pariser Mordfall, der wie ein Jubiläums-Horsd'œuvre diesen Roman eröffnet, eine glänzende Rolle bei der Überführung des Täters gespielt, nun wird er zum Kopf der Opposition gegen Adamsberg, von der die Brigade zerrissen zu werden droht.

Fred Vargas: Der Zorn der Einsiedlerin. Kriminalroman. Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze. Limes Verlag, München 2018. 512 Seiten, 23 Euro. (Foto: N/A)

Aber Widerstände sind gut für eine Figur wie Adamsberg, denn er ist ein sturer Hund. Von Spinnen hat er keine Ahnung, und auch das ist eine günstige Voraussetzung. Denn er vergisst die Fachbegriffe, die er sich bei Experten aufschreibt - hier bei den Spinnenkundlern, den Arachnologen - nicht von ungefähr. Zu viel Wissen würde ihn ablenken und die Intuition verdunkeln, der er folgt. Sie führt ihn, wie so oft, in Welten des Aberglaubens und der Gerüchte, in eine Vergangenheit, aus der Giftiges aufsteigt und in sehr unerfreuliche Regionen der menschlichen Natur.

Adamsberg stößt auf alte Menschen, in denen die Kinder und Jugendlichen noch lebendig sind, die sie in den Vierzigern und frühen Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts waren, auf eine Bande von Jungen, die in einem Waisenhaus in der Nähe von Nîmes mithilfe von Giftspinnen ihr Unwesen trieb, und auf die Geschichten ihrer Opfer. Und er stößt auf die Doppelbedeutung des Wortes "La Recluse", das nicht nur mit der Einsiedlerspinne verbunden ist, sondern auch mit der bis ins Mittelalter zurückreichenden Tradition der Frauen, die sich in die vollkommene, ummauerte Einsamkeit zurückziehen.

Je mehr sich die Serie von Todesfällen als Mordserie entpuppt, desto unaufhaltsamer zieht sie Adamsberg wie seinen Widerpart Danglard in sich hinein. Der eine ist durch eine Kindheitserinnerung, der andere verwandtschaftlich mit dem Fall verbunden. Ihr Feuerwerk an subtilen Mordtechniken, biologischer Expertise zu Giftdosierungen, Namensänderungen und biografischen Explosivstoffen aber brennt Fred Vargas nur ab, um eine sehr elementare Verbrechensressource dem Licht ihres Kriminalromans auszusetzen: die Gewalt gegen Frauen. Sie verbindet in diesem Fall Vergangenheit und Gegenwart, bringt die Täter und die Opfer hervor, und Frauenfiguren, denen zuzutrauen ist, dass sie auf beiden Seiten eine Schlüsselrolle spielen.

Die Spinne im Zentrum dieses Romans aber ist kein Monstrum, sondern eine sehr kluge Autorin, die ihre Netze zum Zweck der Menschenerkundung webt.

© SZ vom 31.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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