Frankreich:Flirt mit dem Fundamentalismus

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Frage einer Demonstrantin auf der Trauerdemonstration für den Lehrer Samuel Paty am 21. Oktober in Paris: „Unterrichten tötet?“ (Foto: Getty Images)

Frankreichs Linke ringt nach dem Lehrermord um ihre Haltung.

Von JOSEPH HANIMANN

Ihre Rolle als Opfer islamistischen Terrors scheint Redakteuren und Zeichnern von Charlie Hebdo auch ein wenig über den Kopf gewachsen zu sein. Ihr mutiger und hartnäckiger Einsatz für Meinungsfreiheit kommt in der Öffentlichkeit oft nur noch als Routine, nicht mehr als wirklich erfrischende Botschaft an. Es scheint nicht gelungen zu sein, aus dem Schock ein weiter tragendes Anliegen zu machen.

Das ist ganz anders, wenn ein Schullehrer nach einer Unterrichtsstunde zu eben jenen Karikaturen von einem 18-Jährigen getötet und enthauptet wird wie vorletzte Woche in der Pariser Vorstadt Conflans. Die Schule, seit der Dritten Republik ein Grundpfeiler politischer Gemeinschaftskultur in Frankreich, hat einen gewaltigen Resonanzraum, durch den allerdings auch obskure Begriffsfloskeln schwirren. Eine davon ist die des "Islamo-gauchisme", gemeint ist eine angebliche Komplizenschaft mancher Linker mit dem islamistischen Fundamentalismus.

Seit der Bildungsminister Jean-Michel Blanquer in einem Rundfunkinterview in der vergangenen Woche erklärte, die "Islam-Gauchisten" richteten an französischen Universitäten Verheerungen an, ist das Wort in aller Munde. Der Minister hatte ein paar Dozenten und eine Studentengewerkschaft im Visier, die mit einem einseitigen Opferbegriff sehr unterschiedlich auf Gewaltakte reagieren, je nachdem, ob sie von Rechtsradikalen oder von Islamisten kommen. Mit dem seit 20 Jahren durch die Diskussion geisternden Ausdruck "Islamo-gauchisme" ist diese Situation allerdings schlecht umrissen.

Der Soziologe Pierre-André Taguieff hatte ihn 2002 in seinem Buch "La nouvelle judéophobie", über einen neuen Judenhass von links, in die Runde geworfen. Im Namen der Toleranz und der Verteidigung von Minderheiten seien manche linke Kreise vor dem damals aktuellen Hintergrund der zweiten Intifada einen taktischen Schulterschluss mit dem politischen Islam eingegangen, argumentierte der Autor. Andere, etwa 2006 Pascal Bruckner mit seiner Polemik gegen den abendländischen "Schuldkomplex", Alain Finkielkraut mit seiner Warnung vor einem geschichtsblinden neuen Antisemitismus oder Élisabeth Badinter mit ihrer Kritik an falsch verstandenen Toleranzvorstellungen, haben die These einer linken Verharmlosung des Islamismus aufgegriffen.

Hauptziel ihrer Angriffe sind der ehemalige Le-Monde-Redaktionschef und heutige Direktor des Internetmediums "Mediapart", Edwy Plenel, der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon und die zu dessen Bewegung "La France Insoumise" gehörende Abgeordnete Danièle Obono, die sich 2015 öffentlich der Solidaritätsbekundung "Je suis Charlie" verweigert hatte. Bedeutet eine solche Verweigerung aber zwangsläufig Zustimmung für das andere Lager?

Ein seltsames Echo fand das schnell zum Kampfbegriff umfunktionierte Wort vom "Islamo-gauchisme" in dem aus der frühen Zwischenkriegszeit bekannten Ausdruck des "Judéo-bolchévisme", der Wahnidee also, die bolschewistische Revolution sei ein jüdisch geprägtes Komplott gewesen. Zu Recht verwahrt sich Taguieff heute gegen einen solchen begrifflichen Kurzschluss. Anders als der "Judenbolschewismus", erklärt er, unterstelle die These einer unterschwelligen Linkssympathie für die Bewegung des Islamismus keine Wesensidentität, sondern nur eine faktische Übereinstimmung der politischen Positionierung.

Dennoch stiftet der Begriff mehr Verwirrung als Klärung. Abgesehen davon, dass er zwischen "Islam" und "Islamismus" keinen Unterschied macht, leuchtet er keinen der entscheidenden Aspekte wie die republikanische Religionsneutralität, die Respektierung kultureller Eigenheiten, das Recht auf kollektive Selbstdarstellung aus. Und er reiht auch Persönlichkeiten ins islamlastig-linke Spektrum ein, die sich nie dazu bekannten. Eher als einen Weg zum besseren Verständnis des Phänomens kann man in der Begriffskonstruktion "Islam-Gauchismus" eine Art Schleimspur sehen, auf welcher Antirassismus, Toleranz, Gerechtigkeitssinn, humanistisches Engagement durch naives oder gezieltes Wegschauen in ihr Gegenteil abgleiten.

Der deutsche Kolumnist Sascha Lobo sprach im Zusammenhang des Mordfalls jüngst in Dresden durch einen Islamisten von einem "Verniedlichungsrassismus" und meinte damit die Bereitschaft mancher hierzulande, den Attentätern aus einer anderen Kultur oder Volkszugehörigkeit nicht die geringste Verantwortungsfähigkeit für ihre Akte zugestehen zu wollen. In Anlehnung an den Jusovorsitzenden Kevin Kühnert liest Lobo diese Haltung aus dem gequälten Schweigen mancher Linken. In Frankreich haben sie bisher nach den entsprechenden Attentaten nicht geschwiegen, sondern ihre jeweils nur bedingte Bestürzung zu erklären versucht. Noch vor einem Jahr marschierten bei einer vom "Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich" veranstalteten Demonstration selbstgewisse Vertreter des linken, alternativen, grünen Lagers sowie der Linksgewerkschaft CGT unter den Protestierenden mit.

Nach der Hinrichtung des Schullehrers in Conflans ist das anders geworden. Die Schule der Republik ist ein Kernanliegen gerade der Linken. Selbst die Ankündigung des Innenministers Gérald Darmanin, das "Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich" als islamistische Kampforganisation gegen die Republik auflösen zu wollen, rief von ihrer Seite keine Protestrufe wach. Das braucht nicht als Indiz für eine endlich zur Vernunft gekommene "islamkompatible Linke" verstanden zu werden, von der man nie genau wusste, was damit gemeint war. Als Zeichen, dass im Land sich etwas bewegt, darf man es aber nehmen.

© SZ vom 28.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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